
Nun blieb ja die Herrschaft der T s i n , welche sich die chinesische
Gesittung aneigneten, in gewissem Maasse doch eine Gewaltherrschaft
und stritt gegen das Grundprincip des chinesischen
Staates, dass das Bewusstsein der sittlichen Weltordnung, nicht
Gewalt die Menschen regieren soll. Durch sittliche Mittel soll die
Ordnung erhalten, die Menge gelenkt werden von den Würdigsten,
durch Prüfung bewährten. Im ganzen Reiche aber erinnerten
Mandschu-Garnisonen und Mandschu - Beamte an den fremden
Zwang. Letztere bestanden keine Prüfung; was der an Cultur weit
überlegene begabte Chinese nur durch angestrengteste Arbeit errang,
das fiel dem rohen Mandschu als reife Frucht seiner Abstammung
zu; denn um sie zu verbinden und sich im Beamtenstande
eine zuverlässige Stütze zu sichern, vergaben die Mandschu-
Kaiser beständig viele Stellen ohne Prüfung an ihre Stammgenossen.
Noch schlimmer wurde es aber, als sie solche verkauften. Nicht
nur musste das den Chinesen erbittern, nicht nur stritt es gegen
sein sittliches Bewusstsein, sein natürliches Anrecht auf Theil-
nahme an der Staatsleitung und die daraus erwachsenden materiellen
Vortheile, sondern es erzeugte schlechte Verwaltung und
Erpressungen. Der Amtskauf war eine Capital-Anlage, welche den
Käufer darauf anwies, das Volk auszusaugen. Während die in-
tellectuellen Fähigkeiten des geprüften Mandarinen einige Bürgschaft
leisteten auch für seinen Charakter, kamen jetzt wichtige
Aemter in die Hände roher unwissender Menschen, die ohne politische
oder sittliche Rücksichten nur darauf ausgingen, ihre Taschen
zu füllen. Die Grausamkeit, Willkür und Käuflichkeit dieser Blutsauger
gewahrt selbst der Fremde; gewiss beschleunigen säe wesentlich
den schnellen Verfall des chinesischen Reiches, sind aber
doch wohl mehr förderndes Symptom als Wurzel der Krankheit.
Einen furchtbaren Schlag versetzte T a u - k w a n der chinesischen
Gesittung auch durch Einführung der Geldstrafen. Der
Mammon giebt im fernen Osten weit weniger Ansehn als hei uns,
wenn auch der Chinese ebensosehr danach strebt. Das Grundprincip
des uralten chinesischen Strafgesetzes war volle Unparthei-
lichkeit, volle Gleichheit ohne Ansehn der Person, des Ranges und
Vermögens. Es gab k e in e Geldstrafen. D!e Einführung derselben
musste die ärmeren Classen und somit die Masse des Volkes mit
grausamer Härte treffen und verderben. Auch diese Maassregel
fördert ohne Zweifel die Auflösung, aber verursacht sie nicht.
XIH. Militärisches Exercitium. 389
Wäre die chinesische Gesittung bei gesunder Kraft, sie stiesse diese
Schäden ab. Sie trug die Blüthen, deren sie fähig war, wird aber
Vielleicht keine neuen treiben, sondern verdorren. Es wäre eine
dankbare Arbeit, den Mängeln und Lücken der chinesischen Cultur
und deren inneren Gründen nachzuspüren; dazu fehlen dem Verfasser
die Kenntnisse, Zeit und Gelegenheit. Die factischen Ergebnisse
aber drängen sich jedem R e is e n d e n auf, und die Tiefe der
Zerrüttung weckt den Gedanken, dass es der Einimpfung neuer
Elemente, vielleicht unserer eigenen höheren Cultur bedarf, um die
chinesische wieder zu heben, der Auflösung ein Ziel zu setzen.
In S h a n o - h a e hatten wir wenig Verkehr mit Mandarinen.
Seit Zerstörung von S u - t s a u wohnte dort der F u - t a e oder Statthalter
von K ia n - s u , S i u e - t s w a n , ein Würdenträger mit dem rothen
Knopf ohne Abzeichen, welcher die höchste Rangstufe verleiht.
Die erste Berührung fand bei einem militärischen Exercitium statt,
das der F u - t a e für General de Montauban anordnete. Mit Diesem
begaben sich Graf Eulenburg und einige seiner Begleiter am 10.
April Nachmittags auf den eingefriedigten Exercirplatz innerhalb
der Stadt. Drei Kanonenschüsse begrüssten die Fremden. Durch
ein von Fahnenträgern gebildetes Spalier gelangten sie zu einem
langen, niedrigen Zelt, wo der Statthalter sie empfing. Der com-
mandirende chinesische Officier sprach knieend einige Worte zum
F u - t a e und gab darauf mit einer rothen Fahne das Signal. Zuerst
kam ein Vorbeimarsch in Sectionen; die beiden ersten bildeten
Krieger mit schweren Luntenflinten, die je zwei, der eine den Kolben,
der andere den Lauf auf den Schultern trugen. In den folgenden
Sectionen — zusammen höchstens 200 Mann — führte jeder
Soldat eine gewöhnliche Luntenflinte Nun stellten sich die Leute
mit den schweren Flinten in Abständen von einigen Schritten vor
dem Zelte auf und gaben mit ziemlicher Präcision mehrmals Feuer; dabei
ruhte der Lauf auf der Schulter des vorderen Trägers. — Dann
kamen die anderen Sectionen und führten ein regelmässiges, für die
schwerfällige Waffe ziemlich schnelles Tirailleur-Feuer mit Durchtreten
der Glieder aus. Nach Wiederholung dieses Exercitiums bewaffnete
sich die ganze Schaar mit bünthemalten Schilden und bildete
nach einigem Wirrwarr durch Nehen- und Uebereinandertreten
eine Art Tableau, wie ein grosses Schild, das der folgenden Schaustellung
als Hintergrund diente. Von zwei Einzelkämpfern trug der
eine Schwert und Schild, der andere eine lange Lanze oder zwei