
Geschichte entwickelten chinesischen Gesittung. Von allen Volks-
classen blieben die Studirten am längsten unversöhnlich gegen die
Fremden; ihr Patriotismus war uneigennützig, im guten Bewusstsein
des Rechtes und im Wahn überlegener Gesittung begründet. Weniger
unverdächtig scheint die Vaterlandsliebe vieler Mandarinen, welche,
dem Kaiser schmeichelnd und die Fremden gegen besseres Wissen
herabsetzend, auf Vortheil und Beförderung ausgingen. Aber auch
unter den Beamten gab es ächte Patrioten, wie den strengen unbeugsamen
L in . Sein Treubruch gegen die Fremden wirft weniger
Schatten auf seinen Charakter, als auf die chinesische Anschauung,
welche, des Völkerrechtes spottend, jeden den himmlischen Satzungen
trotzenden Rebellen mit allen Mitteln zu bekämpfen gebietet. Der
von den angesehensten Kaufleuten getragene, angesichts der chinesischen
Obrigkeit verübte seeräuberische Schleichhandel gab wohl
einige Veranlassung, die Engländer für ruchlose Wilde zu halten.
— L in blieb nach seiner Degradirung und den bitteren Erfahrungen,
die er an den eigenen Landsleuten machte3®), seiner Gesinnung durchaus
treu. Nach der Capitulation schilderte er brieflich einem Verwandten
mit tiefem Schmerze die tollen Excesse der chinesischen
Soldaten, die Selbsucht des alten Y a n - f a n , — der mitten
unter dem Blutvergiessen nur darauf bedacht war, die Beute aus
den Factoreien gegen baares Geld zu verkaufen gaH das unwürdige
Betragen säinmtlicher Beamten ausser dem Richter, und den Ver- " O 7
rath des Präfecten Yu, welcher den Angriff des Landvolks unterdrückte
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ie chinesische Regierung ergriff auch später nur halbe
Maassregeln; sie hetzte und bewaffnete das Volk gegen die Fremden,
führte es aber niemals in den Kampf. Und doch hätten die
Engländer in der ansässigen Landbevölkerung achtbare Gegner gefunden,
w'ährend die regulären Truppen sieh aus dem niedrigsten
Gesindel recrutirten, das mit wenig Ausnahmen beim ersten
Schüsse davon lief, und, die Dörfer plündernd, eine Geissel des
Landes wurde. Nach dem Abzug der Engländer wurden Milizen
in der Umgegend vertheilt, um dem Unfug dieser Banditen zu steuern.
Die Truppen aus den nördlichen Provinzen betrugen sich gegen die
Bevölkerung so unbändig, dass sie zurückgezogen werden mussten.
Der Aufruhr w'ährend der Einschliessung erzeugte anarchische Zu-
86) Die auf seine Kosten gekleideten eingeübten achthundert Freiwilligen gingen
mit einem Soldvorschuss davon, als der Dampfer Nemesis sich K a n - t o n näherte...
stände, deren die Behörden in vielen Jahren nicht Meister wurden.
Das Gesindel von K a n - t o n und Tausende fahnenflüchtiger Soldaten
durchstreiften raubend und brennend das Land, und vielen der Beraubten
blieb keine Wahl, als ihnen zu folgen. So wuchs in den
Provinzen K u a n - t u n und K u a n - s i ein Zustand der Auflösung heran,
der aller Anstrengung der Behörden spottete und den Keim der
späteren T a e - p i n - Bewegung legte. Der Heerd der Anarchie
war K a n - t o n ; die Mandarinen hüteten sich dort aus Furcht vor
offener Empörung, den Zügel allzü straff zu führen. Die Capitulation
hatte ihrem Ansehn den ärgsten Stoss versetzt; denn bei der
Bevölkerung schlug der Glauben Wurzel, dass sie ohne die
Einmischung des Präfecten Yu die Engländer geschlagen hätte.
Nach deren Abzug erschien in K a n - to n folgender Maueranschlag:
»Wir sind die Kinder des himmlischen Reiches und fähig unsere
Heimath zu vertheidigen. Wir können euch ohne Hülfe der Mandarinen
vernichten. Das Maass eurer Missethaten ist voll. Wären
wir nicht durch das Abkommen der Behörden an Ausführung
unseres Vorhabens gehindert worden, so hättet ihr den Arm
der Bürger fühlen sollen. Waget nicht, uns ferner zu beschimpfen,
sonst machen wir ein Exempel aus euch, und wenn ihr Feinde in
jeder Ritze und in jedem Winkel sehet, so werdet ihr nicht mehr
entschlüpfen können.» -iäPlacate von ähnlichem Inhalt wurden durch
eine Reihe von Jahren häufig in den Strassen von K a n - to n an-
geheftet. Die Mandarinen thaten ibr Bestes, den Fremdenhass zu
nähren, zogen aber zugleich bei der Bevölkerung ein gefährliches
Bewusstsein der. Selbstständigkeit und Autonomie gross.
Y i - s a n ’s Niederlage konnte auf die Länge nicht verborgen
bleiben, der Kaiser schonte ihn nur als nahen Verwandten. Er
verschwand damals vom Schauplatz, wurde aber nach dem Frieden
von N a n - k in der Verschleuderung öffentlicher Gelder angeklagt,
verhaftet und nach P e - k in ahgeführt. Bis die Volkswuth sich
gelegt hatte, blieb er eingekerkert und erhielt dann ein untergeordnetes
Amt im1 chinesischen Turkestan. — Der zweite Commandeur
L ü n - w u n starb bald nach Abschluss der Convention. Der alte
Y a n - f a n bat um Urlaub nach seiner Heimath, dann um seinen Abschied,
der ihm in Gnaden gew'älirt wurde.