Reihe von Tatsachen zu einem abgerundeten Gedankenbilde. Doch die solcher wissenschaftlichen
Theorie zugrunde liegenden Voranssetznngen sind einseitig. Darum kann
es nicht wnndernehmeii. daß auch eine entgegengesetzte Theorie der Lebenserscheinungen
sich geltend macht, die man als Vitalismus zu bezeichnen pflegt.
Die IMaschinentheorie der Organismen, oder, wie auch seit K a n t gesagt wird,
der Mechanismus, wird von manclien in einen ansschließenden Gegensatz zum Vitalismus
gebracht: das ist zurückzuweiseii. Man verlangt häutig eine Wahl zwischen verschiedenen
Meinungen, deren eine nur richtig sein könne. Und doch ist die andere
Meinung keineswegs falsch; unrichtig ist nur jenes Verlangen. Jede der beiden
Meinungen beleuchtet nur eine Seite der Sache, sie ist die richtige Konsequenz des
eingenommenen Staiulimnktes, und beide Stand{)unkte können von vornherein gleichberechtigt
sein. Dies dürfte auch die Sachlage im Kampfe zwischen Mechanismus
und Vitalismus sein auf dem Felde der Biologie.
Nach meiner Überzeugung verhält es sich mit den Lebensvorgängen, insbesondere
mit den Vorgängen der Fortpflanzung, Vererbung und Entwicklung, wie
mit dem Billardspiel. Auch letzteres ist zerlegbar in ein mechanisches und ein vitales
Moment. So leugnet auch der Vitalismus das maschinelle Geschehen im Lebensprozesse
der Pflanzen und Tiere keineswegs, ihm ist die maschinelle Seite des Lebens
Voraussetzung. Aber wenn man auch die physikalisch-chemische Analyse der Lebensvorgänge
noch so weit treibt, immer bleibt ein Rest von Erscheinungen, für den jene
Erklärungsmittel versagen; schon K a n t sagte, es sei vergeblich, für die Erklärung
der Entwicklung eines Grashalms auf einen N ew t o n z u warten. Für die Bildung
jeder einzelnen Zellform in der Pflanze müssen die kleinsten Substanzteilchen mit
einer nicht fehlenden Sicherheit zurechtgerückt und geschoben werden, wie es der
Billardspieler mit den Kugeln tut. und wie bei einer kunstvollen Stickerei jedes
Fädchen und jede Farbe den richtigen Platz erhalten muß. Dazu sind Kräfte erforderlich,
die sich einer chemisch-physikalischen Erklärung nicht fügen wollen. Wenn wir
die unendlich feine Ordnung und Plarmonie der Teile berücksichtigen, die sich im
Aufbau einer Rose oder Orchidee oder gar des menschlichen Körpers offenbart, wo
die geringste Abweichung oder Störung zu Erkrankungen führt, wird uns sogar der
Gedanke nahe gelegt, jene ordnenden, aufbauenden Kräfte seien nur vergleichbar
einer Intelligenz, wie sie in der Intelligenz des Billardspielers sich geltend macht;
doch einer Intelligenz, die so weit über menschliche Intelligenz hinausragt, wie der
menschliche Körper über jede von Menschenhand gefertigte Maschine erhaben ist.
Dies führte zur naturphilosophischen Hypothese einer unbewußten Intelligenz der Natur.
In der Gegenwart ist das Vorhandensein eines solchen mechanisch nicht
erklärbaren Restes unter den die Organismen bildenden Kräften unbestreitbar; und
da Zukunftsmusik in der Wissenschaft keinen Platz haben sollte, ist mit dieser Tatsache
einfach zu rechnen.
Es ist daher die starke Seite des Vitalismus, daß er den korrektesten Ausdruck
für die dermalen bekannten Tatsachen bildet. Doch auch der Mechanismus
besitzt seine starken Seite, sie liegt indessen auf einem anderen Felde.
Indem der Mechanismus die Hypothese anfstellt, daß alle Lebensvorgänge
meclianisch erklärbar seien, daß dies für den „vitalen Rest“ bislang nur noch nicht
gelungen sei. macht er diese Hypothese, die zunächst als Ergänzungshypothese gedacht
war. zu einer Ar b e i t s hypothe s e , zu einem heuristischen Prinzipe der Forschung.
Als Arbeitshypothese ist der Mechanismus für den Fortschritt der biologischen E rkenntnis
von größtem AVerte geworden. Diese Arbeitshypothese ward zum Füllhorn
einer ungemessenen Zahl von Problem e n . Die Geschichte der Biologie hat dem
Mechanismus soweit recht gegeben, als es gelungen ist, auch in den Erscheinungs-
reiheii der Eortpilanzung, A^ererbung und Entwicklung eine große Zahl mechanisch
erkläi'barer Einzelvorgänge festzustellen und herauszuschälen. Kein Biologe hat Aussicht
auf erfolgreiche Arbeit, der nicht die A^oi-aussetzungen jener Arbeitshypothese
zu der seinigen macht und seine Pi'obleme den Gesichtspunkten des Mechanismus
unterordnet. Nur diesem A'erfahren verdankt die Forschung einen Sieg nach dem
ändern. AAhr arbeiten in der biologischen Forschung durchweg mit der Voraussetzung,
a ls ob der Oi'ganismns ein Mechanismus wäre, und haben dieser Voraussetzung die
wichtigsten Resultate zu danken. Um nochmals auf unser altes Beispiel zurückzukommen,
lassen sich auch in der Tätigkeit des Billard Spielers zahlreiche rein mechanische Momente
nachweisen. Trotzdem bleibt hier wie in der Entwicklung der Organismen ein Rest,
den wir als Tatsache hinzunehmen haben; wir nennen ihn die menschliche Intelligenz.
Machen wir sie zum Maßstab der Organismen, dann sieht es so aus, als ob eine der
menschlichen weit überlegene Intelligenz ihren Aulbau geleitet hätte.
Uber dies „es sieht aus, als ob“ kommt der Ahtalismus nicht hinaus, wie
auch die Physik nicht darüber hinauskommt, zu sagen: Es sieht aus, als ob ein Äther
den AVeltraum erfülle. Beides sind Hy])othesen. Andererseits ha ndel n wir in der
biologischen For s c hung, als ob alles mechanisch zuginge. Denn als eine Schwäche
des Adtalisinus ist einzuräumen, daß er als Arbeitshypothese, als heuristisches Prinzip
der Forschung bislang nur sehr wenig geleistet hat; in dieser Hinsicht sind die Hypothesen
des Ahtalismus und des Äthers einander nicht gleichwertig.
AATr sind nunmehr an den wichtigen Begriff der Arbe i t shypothe s e und der
aus ihr entspringenden Pr o b l eme gelangt.
Unter den biologischen Problemen können wir zwei Arten unterscheiden, die
sich als praktische und als logische Probleme kennzeichnen lassen.
Unter den p r a k t i s c h e n Problemen, deren klare Formulierung zu den
wichtigsten Aufgaben des Biologen gehört, verstehe ich solche Fragen, die sich der
Behandlnng durch Beobachtung und Experiment zugänglich erweisen und durch diese
wichtigsten Forschungsmittel eine Bejahung oder Verneinung erfahren können. Als
logi sche bezeichne ich solche in der Biologie diskutierte Probleme, auf die der Maßstab
der Erfahrung keine Anwendung findet, und in denen es sich daher meist nur um
die Erörterung von Mögl i chke i t en handelt; sie laufen daher alle mehr oder weniger
auf naturphilosophische Ergänznngshypothesen hinaus. Dennoch kann auch diesen
Problemen mitunter ein gewisser heuristischer AA'ert nicht abgesprochen werden.
In bezug auf die praktischen Probleme besteht so wenig Meinungsverschiedenheit
unter den Naturforschern, daß ich nicht auf sie einzugehen brauche.