II.
Die Entwicklung der Flora Europas seit der
T ertiärzeit.
Vorträge von A. Penck (Wien), A. Engler (Berlin), G. Andersson (Stockholm),
C. A. Weber (Bremen), 0 . Drude (Dresden), J. Briqnet (Genf), G. Beck (Prag),
gehalten in den wissenschaftlichen Versammlungen des Kongresses am 13. Juni,
14. Juni und 16. Juni 1905.
1. Die Entwicklung Europas seit der Tertiärzeit.
Von Albrecht Penck (Wien).
(Mit einer Karte.)
Die Entwicklung Europas seit der Tertiärperiode steht unter dem Zeichen
des Eiszeitalters, während dessen die Gletscher der Alpen sich bis ans dem Gebirge
lieraiis, die der Pyrenäen sich bis an dessen Fuß erstreckten, zahlreiche Mittelgebirge,
Firukappen und kleine Eisströme trugen und sich über den Norden Europas ein
gewaltiges Inlandeis breitete.
Über das Wesen einer durch solche Gletscherentwicklung gekennzeichneten
Eiszeit gehen die Meinungen noch vielfach auseinander. Ist sie heute zwar wohl
kaum jemandem mehr die Kältewelle, die nach A g a s s iz die ganze Erde betraf und
alles organische Leben ertötete, so ist sie doch für viele eine Zeit merklicher Temperatur-
erniedrignng, welche die einzelnen biogeographischen Zonen der Erde gründlich verschob,
während sie anderen eher als Zeit gesteigerter Niederschläge erscheint, welche wohl
die Gletscher zum Anwachsen brachten, aber auf Flora und Fauna von geringerem
Einfluß war. Verschieden daher das Bild, das vom unvergletscherten Europa entworfen
wird. Denken sich die einen in der Nachbarschaft der großen Eismassen große,
baumlose Flächen mit Tundracharakter, so hegen die anderen keine Bedenken, Wälder
dicht neben den Riesengletschern aiizunehmen. Beide Auffassungen können sich auf
iiegenwärtige A'erhältnisse stützen. Die beiden heute bestehenden größten Eismassen
der Erde, das grönländische und antarktische Inlandeis, sind von Ödland umgeben,
das nur äußerst spärlichen Pflanzenwuchs darbietet, wogegen die stattlichen Gletscher
Patagoniens. Neuseelands und des nordwestlichen Nordamerika bis in dichte Urwälder
herabreichen und unter klimatischen Umständen enden, welche eine reiche Vegetation
selbst auf der Moräiienbedeckung des Eises ermöglichen. Welche von beiden Möglichkeiten
für die Eiszeit in Europa zutrifft, läßt sich aus der bloßen Existenz der großen
Inlandeisinassen nicht zwingend herleiten. Ein Inlandeis ist eine Eiskalotte, die in
ihren zentralen Partien über die Schneegrenze aufragt. Ist von hier aus die Eisabfuhr
langsam, so schwillt die Kalotte bedeutend an und gerät mit immer größeren Flächen
über die Eirngrenze, um sich infolgedessen weit auszubreiten. Eine kleine Klima-
ändei-ung, welche ein hochgelegenes Plateau über die Schneegrenze bringt, kann daher
unter der gemachten Voraussetzung die Entwicklung eines großen Inlandeises nach
sich ziehen. Anders wenn die Eisabfuhr rasch verlaufen kann. Dann verlangt die
Bildung einer großen Inlandeismasse einen entschiedenen Klimawechsel. AA^eit bessere
Klimamesser als die großen Inlandeismassen sind die kleinen Gletscher. Ein jeder
setzt für sein Dasein ein Firngebiet voraus, das über der Schneegrenze liegt, und ein
jeder erstreckt seine Zunge unter dieselbe herab. Je kleiner der Gletscher, desto
genauer kann man die zu ilim gehörige Schneegrenze bestimmen. Ihre Festlegung
für die Eiszeit ist das Ziel der Untersuchungen gewesen, die vom physiogeographischen
Standpunkt ans in den letzten beiden Jahrzehnten betrieben worden sind. Zunächst
im mittleren, dann im südlichen und südöstlichen Europa ist die eiszeitliche Schneegrenze
nunmehr ermittelt, und damit ist für die Eiszeit eine jener pflanzengeographisch
so bedeutungsvollen Höhengrenzen festgelegt, aus welcher man annähernd auch auf
die Lage einer anderen, nämlich der Baumgrenze, zu folgern vermag.
Baum- und Schneegrenze befinden sich allenthalben auf der Erde in einem
bestimmten Abstande voneinander. Derselbe kann theoretisch allerdings gleich Null
werden. In einem Gebiete, dessen Temperatur und atmosphärische Feuchtigkeit
jaliraus, jahrein dieselben sind, wird der Schneefall allenthalben von ein und derselben
Meereshöhe an beginnen; ist er sehr reichlich, so wird jene Meereshöhe eine
mittlere Jahrestemperatur von über 0° haben und dann ist denkbar, daß unmittelbar
bis zu ihr heran die Temperatursummen gegeben sind, welche der Baum wuchs braucht.
Aber ein solch ideales Klima ist auf der ganzen Erde nicht vorhanden. Allenthalben
macht sich eine gewisse Periodizität der klimatischen A^erhältnisse geltend. Ist in
den Tropen zwar die Jahresschwankung der Temperatur eine kleine, so beeinliußt
hier die jährliche A^'erteilung der Niederschläge um so entschiedener die Lage der
Schneedecke; diese reicht während der Regenzeit tiefer herab, als in der Trockenzeit;
in höheren Breiten aber, wo wir zwar Regen zu allen Jahreszeiten haben, treffen
wir selbst am Meere stets eine namhafte Jahresschwankung der Temperatur, so daß
sich auch hier die Schneedecke in einem Teile des Jahres tiefer herab erstreckt als
im anderen. Überall aber, wo die Schneedecke solche jahreszeitliche Schwankungen
ihrer Ausdehnung macht, muß zwischen der Grenze, bis zu welcher sie in der trockenen
oder warmen Jahreszeit znrückweicht, also der Grenze des permanenten Schnees oder