Bei Neuliiium wächst tlie Zwergbirke auf einem Teile eines kleinen Hochmoores.
Obschon ich nicht in der Lage gewesen bin, diesen Standort zu untersuchen,
so ist es doch nach dem. was icli vorhin über die Entwicklnngsgeschichte der nord-
dentschen Hochmoore sagte, vollkommen unwahrscheinlich, daß die Pflanze sich an
dieser Stelle seit der Eiszeit erhalten haben sollte. Nach alledem kann man Betula
nana im norddeutschen Tieflande nicht als Relikt dieser Zeit ansehen.
Wie vorsichtig man iiberhaniit darin sein muß, Pflanzen als Relikte zu
erklären und an diese Erkläi-nng weitere Schlüsse zu knüpfen, mag ein anderes
Beispiel lehren.
Auf den Hochmooren des nordwestdeutschen und teilweise auch des nordost-
dentschen Tieflandes flnden sich ii. a. Holcns mollis, Corydallis clavicnlata, Senecio
silvaticus. Epilobium angustifolium und ^Accinium vitis idaea in Menge an Wegrändern
und unbebauten Plätzen auch fern von Gebüschen und Hecken, und die ersten vier
oft als nngemein lästige Ackerunki-äuter. Da alle diese- Pflanzen in den Wäldern des
West- und teilweise auch des Ostelbingerlandes verbreitet sind, so könnte man geneigt
sein, sie auf den Hochmooren als Waldrelikte aufzufassen und auf eine ehemalige Bedeckung
dieses Bodens mit Wald zn schließen. Nun zeigt der Aufbau dieser Moore
in der Tat. daß sich ehemals an ihrer Stelle meist Wälder befunden haben, in denen
jene Pflanzen gelebt haben mögen, und z. T. nachweislich gelebt haben. Allein eine
LTntersnchung der über den Waldtorfschichten lagernden 2—5 Meter S])hagnumtorf,
der den Ackerboden der Llochmoore darstellt, führt zn der Einsicht, daß sich in dieser
obern Schicht ihre Reste niemals vorflnden. Vielmehr sind diese Pflanzen ganz junge
Ansiedler, die sich nicht eher ausbreiten, als bis das Moor entwässert und in Kultur
genommen ist').
Es läßt sich nicht verhehlen, daß man durch ähnliche Deduktionen in der
Geschichte der Pflanzenwelt hier und da zu Schlüssen gelangt ist, deren Berechtigung
mindestens zweifelhaft ist. Wenn wir von wenigen Ausnahmen abselien, so kennen wir die
spezielle Physiologie und Biologie der Pflanzenwelt Europas viel zu wenig, um im
voraus sagen zn können, wie sich die einzelnen Arten bei einer Veränderung ihrer
StandortsbedingLingen, bei der Schaffung ganz neuer Standorte oder unter nicht allzu
schroffen und starken Änderungen des Klimas und der übrigen Daseinsbedingungen
vei'halten werden. Wenn wir auch sagen können, daß Wasser- und Sumpfpflanzen im
allgemeinen bei einer Trockenlegung verschwinden, so ließen sich doch auch Beobachtungen
genug anführen, wonach einzelne Arten der zweiten Kategorie sich mit
1) Anscheinend liegen auf den Hochmooren ähnliche Ursachen vor, wie die, welche das Auftreten
gewisser Bodenpflanzen des Waldes auf den ostfriesischen Inseln ermöglicht haben, Pflanzen,
die ebensowenig als Waldrelikte aufgefaßt werden dürfen. Welches diese Ursachen sein mögen, ist
z. Z. schwer zu sagen. Man wird unter anderm an den verhältnismäßig hohen Wasserdampfgehalt
wenigstens der Luftschicht unmittelbar über dem Boden zu denken haben. Es sei daran erinnert,
daß manche Pflanzen, wie Calluna vulgaris, Aira flexuosa u. a. m., die auf minerogenen Bodenarten,
insbesondere Sandböden des nordwestdentschen Tieflandes im freien Lande Bestände bilden, in den
luftrockenen, niederschlagsärmeren Teilen des nordöstlichen Gebietes unter gleichen Bodenverhältnissen
offensichtlich den Schutz des Waldes suchen.
trockeneren Verhältnissen recht wohl abzuflnden vermögen, und nur durch den Kampf
ums Dasein mit einer für die neuen Bedingungen besser ausgerüsteten Vegetation
früher oder später zurückgedrängt werden. Bei den Bewohnern des trockenen Bodens
aber ist die Beurteilung des fragliclien Verhaltens in den meisten Fällen noch weit
schwieriger. Demgemäß sind auch die Schlüsse, die aus der Art des Auftretens und
der Neugesellscliaftung einer Art auf ilir Indigenat und ilire Gescliiclite gezogen
werden, meist äußerst unsicher, und eine nocli weit größere Unsiclieriieit entstellt,
wenn ans der lieutigen Vei'breitung der Pflanzen in einem gegelienen Gebiete gar
Rückscldüsse auf die geologischen und klimatologischen Prozesse der Vergangenheit
gezogen werden.
Nun ist es zwar keinem Forscher zn verdenken, wenn er über das bloße Registrieren
der Ersclieinnngen lunausgeliend sich über ihre Ursachen aucli init unzu-
länglichen Mitteln eine Vorstellung zn machen versucht. Allein man hat allzu häiiflg,
zumal in den Naciibarwissensciiaften. vergessen, daß es sicli hier nur um Arbeits-
iiypothesen liandelt, die niclit mit sicher bewiesenen Tatsachen verwecliselt werden
dürfen. In einer Zeit, wo sicli nielir und melir das Bedürfnis heraiisstellt, die ver-
scliiedenen Wissensgeliiete wieder einander zn nähern und die auf jedem getrennt
gewonnenen Erfalirungen miteinander zu vergleiclien und zu verknüpfen, ist es wohl
angebraclit, vor Übereilungen solcher Art zu warnen.
Nacli alledem wird der Pliytoliistoriker in erster Linie gut tun, den Begriif Relikt
scliärfer als liislier zu fassen. Bemüliungen in dieser Hinsicht liegen von C. Sc h r ö t e r
und E ug. Warming vor. Darnach sind Relikte lebendige Überreste „von Pflanzen,
die unter der Herrscliaft anderer Besiedelungsbedingungen ilire Ausbreitung erreicht
liaben“ ') und „noch an iliren ursprünglichen, alten Standorten liier und da leben“ -)
„Ein Relikt muß eine seltene Art sein“ — „daß eine Art sicli nur an einer einzigen
Stelle [sc. eines Landes] flndet, genügt nocli niclit, sie zum Relikt zu stempeln. Vereinzeltes
\'orkonimen an einzelnen Stellen keniizeiclinet ja auch neue Einwanderer.“
Ebensowenig entsclieidet der Mangel reifender Früclite über die Reliktnatiir, und
selbst die Bemerkung, daß Relikte in gesclilossenen Formationen oder in alten Kolonien,
Ankömmlinge in neugebildeten Kolonien und jungen Formationen auftreten, vermag
keine zuverlässige Entscheidung zu liefern, da es an durciiaus sicheren und in allen
Fällen zutreffenden Kennzeichen des Alters eines Pflanzenvereins fehlt. Der besprochene
Fall der Betula nana lehrt überdies, daß auch liier der Schein trügen kann, daß selbst
das Auftreten in einem gesclilossenen alten und stabilen Vereine niclits siclier beweist.
„Es bedarf einer Reihe übereinstimmender Merkmale, um eine Pflanze oder
einen Pflanzenverein als Relikt zu erklären.“ „Man muß in seinen Urteilen
sehr vorsichtig sein, so lange man nicht bewiesen hat, daß die Verbreitnngsmittel der
Gegenwart die Einwanderung an die betrefl'ende Stelle nicht ermögliclien. Beweise
sind dafür beizubringen, daß der Boden, wo die fragliche Pflanze wächst, wirklich
1) F r ü h u . S c h r ö t e r , Die Moore der Schweiz. Bern 1904, p. .385.
2 ) E u g . W a rm in g , Den danske Planteverdens Historie efter Istiden. Kopenhagen 190 4 ,
p. 71 ff. — Dieses und die folgenden Zitate in möglichst wörtlicher Übersetzung nach diesem Autor.