Um so mehr bedarf die zweite Art der Probleme einer etwas eingehenderen
Würdigung.
Ich nannte jene Probleme l o g i s che mit Rücksicht auf das Eingreifen der
Natnrpliilosophie. Beschränken wir aber in der Biologie das AVort Problem auf
solche Fragen, die p r i n z i p i e l l wenigstens i)raktisch lösbar sind, die durch Er f a h r u n g
eine bejahende oder verneinende Antwort tinden können, so sind jene zweiten Probleme
für den Naturforscher überhaupt keine Probleme, sondern Scheinprobleme. Denn sie
ergeben nur Hypothesen, die nicht Arbeitshy])othesen im praktischen Sinne sein können.
Sie sind empirisch unlösbar. AA'ohl wird unser Denken durch sie herausgefordert;
doch das Ergebnis dieses Nachdeidiens wird nur Gegenstand des Glaubens, nicht
Gegenstand der Forschung und des AAdssens sein können. Dennoch spielen solche
Hypothesen und Pseudoprobleme in der Geschichte der Biologie eine Rolle und haben
in weiteren Ki-eisen der Laienwelt oft erst das Interesse an den biologischen Zeitfragen
rege gemacht.
Es wird sich empfehlen, das Gesagte an zwei Beispielen zu erläutern.
Nach der Abstammungslehre haben Tierreich und Pflanzenreich im Laufe
der Erdgeschichte eine En twi c k lu n g durchgemacht. Wie viele empirische und
hypothetische Elemente sich in dieser Lelire vei'einigen, möge unerörtert bleiben.
Doch zum Begriff der Entwicklung gehört ein Anfang. Die am meisten verbreitete
Annalime der Biologen geht dahin, daß jener Anfang des organischen Lebens auf
der Erde in kleinsten und einfachsten Zeilen bestanden habe, die sich teilweise bis
zu den höchstorganisierten Pflanzen und Tieren entwickelten, teilweise aber auf der
Stufe einzelliger Protozoen, Bakterien usw. stehen blieben.
Ein solcher Anfang des Lebens auf der Erde — und nur darum handelt es
sich — muß namentlich dann stattgefunden haben, wenn wir die IvANT-LAPLACESclie
Theorie annehmen, wonach unsere Erde einst ein glühender Ball war und das Leben
erst nach dessen Abkühlung einzusetzen vermochte. A^erwirft man diese Theorie
lind nimmt dagegen an, die Erde sei von Ewigkeit her so beschaffen gewesen, wie
sie jetzt ist, so könnte auch von jeher Leben auf ihr bestanden haben. Allein die
letztere Hypothese, die auch mit den Tatsachen nur schwierig vereinbar wäre, wird
von wenigen geteilt.
Nimmt man einen Anfang des Lebens und damit der Entwicklung nach
erfolgter Abkühlung der Erdoberfläche an, so fragt es sich weiter, ob die Urzellen
aus dem anorganischen Material der erkalteten Erdrinde entstanden sind, oder ob sie
von anderen AA'^eltkörpern aus die Erde besät haben. Man sieht, es handelt sich hier
um ein Problem, das der Erfahrung gänzlich entzogen und nur der logischen Erörterung
zugänglich ist. Darum ist diese Frage für die Naturforschung ein Pseudoproblem,
und nur in naturphilosophischem Sinne kann von einem wirklichen, d. h.
logischen Problem gesprochen werden. Tatsächlich kann nur die Möglichkeit oder
Unmöglichkeit der A^orgänge erörtert werden; höchstens käme noch die größere oder
geringere AA^ahrscheinlichkeit in Betracht.
Der tellurische Ursprung der ersten Organismen ist in der Hypothese der
sogenannten Urzeugung behauptet worden.
Diese Hypothese stellt mit aller Erfahrung in Widerspruch. AVir dürfen
nach dem übereinstimmenden Ergebnis aller Beobachtungen und Versuche behaupten,
daß in der Gegenwart lebendige Zellen niemals ans anorganischem Material entstehen.
Nach dem xVxiom von der Unveränderlichkeit der physikalischen und chemischen
Gesetze dürfen wir aber auch folgern, daß dies vor sehr langen Zeiten ebensowenig
geschehen ist. AAhe ich mehrfach durch eingehende theoretische Untersuchungen
gezeigt habe, ist es für die in den anorganischen Verbindungen der Erdrinde waltenden
chemischen und energetischen Kräfte ihrer Eigenart wegen unmöglich, aus sich heraus
lebendes Protoplasma zu gestalten, einen Elementarorgauismus zu bilden. Mir erscheint
die Urzeugung prinzipiell so unmöglich, wie ein Perpetuum mobile. A"on der Unmöglichkeit
der Urzeugung gehen auch die A^ertreter der Besamungshypothese aus. Dieser
Gedanke wurde zuerst von H e r m a n n E b e r h a r d R ic h t e r geäußert (vergl. Schmidts
Jahrb. f. Medizin 1865, 1870, 1871).
R ic h t e r hält das Dasein organischen Lebens im Weltraum für ewig. Der
Kohlengehalt der Meteoriten soll von organischen Resten herrühren. Doch sollen
auch sehr kleine Keime niederster Organismen frei im AVeltraum umherfliegen. Sie
geraten dadurch von den Planeten, so auch von unserer Erde, in den Weltraum, daß
sie bis in die obersten Luftschichten emporwirbeln und mit diesen abgestoßen werden;
doch können sie auch in humusreichen Bruchstücken eines zerplatzten Himmelskörpers
in den Weltraum hinausgeschleudert werden. Bei der niederen Temperatur des
AA’'eltraums (—200°) können die darin beflndlichen Keime Jahrtausende lebendig
bleiben. Da auf diese Weise Keime von Organismen von einem Weltkörper auf
einen anderen gelangen können, so braucht das Leben niemals einen Anfang genommen,
sondern sich nur durch Fortpflanzung erhalten zu haben. Auch die Erde wurde in
dieser AA'eise von anderen AA^eltkörpern aus bevölkert.
Bald darauf (1871) hat es auch Lord K e l v in für möglich erklärt, daß die
Erde durch Keime, die in Spalten von Meteorsteinen steckten, besamt worden sei.
AA'enn wir einmal die Möglichkeit zugeben wollen, daß bei der großen Kälte
des AA'eltraumes ausgetrocknete Keime niederer Organismen lange Zeit l a t e n t lebendig
bleiben können, so sind doch R ic h t e r s Hilfshypothesen über die Abstoßung solcher
Keime aus der Atmosphäre in den AA^eitraum ganz unzulänglich; ihre Fortbewegung
und ihr Hinabfallen auf die Erde, soweit es nicht durch Meteorsteine geschehen soll,
wird gar nicht erörtert.
R ic h t e r s Hypothese hat neuerdings einen Verfechter gewonnen in dem
schwedischen Chemiker A r r h e n i u s (die Umschau 1903, Nr. 25), ein Beweis, daß
auch dieser Chemiker Urzeugung für unmöglich hält.
A r r h e n i u s geht davon aus, daß der Himmelsraum von fein verteiltem Staub
erfüllt sei, wovon ein Teil aus Sporen niederer Organismen, sagen wir kurz Bakterien,
gebildet werde. Man darf annehmen, daß der Durchmesser solcher Sporen ein zehntausendstel
Millimeter nur um weniges übertrift't. AVie R i c h t e r , erörtert auch
A r r h e n iu s die Frage, auf welche Weise solche Sporen aus den obersten Schichten
unserer Atmosphäre entgegen der Schwere in den Weltraum geschleudert werden
könnten. In jenen Schichten herrscht nur noch ein tausendstel Milligramm Luftdruck.