wunden. Unbewußt haben sie sich nach und nach einander genähert und schließlich
die Hände ineinander gelegt. Man hat ei-kannt: mir wenn beide vereint in gegenseitiger
Achtung am Tempel der Wissenschaft als Pi'iesterinnen dienen, können sie finden
Fortschritt der Menschlieit Ersiirießliclies wirken. Darauf kommt es an.
Wie die Forschung Pfiegerin des tatsächliclien Wissens, ist die Naturphilosophie
recht eigentlich Hüterin der Hypothesen. Abei- will sie dauernd mit der
Forschung in Freundschaft Zusammenarbeiten, so muß sie die von jener ermittelten
Tatsachen berücksichtigen und mit unerbittlicher Strenge darüber wachen, daß alle
solche Hypothesen als Unkraut beseitigt werden, die mit sicher gestellten Tatsachen
in Widerspruch stehen. Durch Duldung, ja Züchtung von Hypothesen, die ohne die
feste Grundlage von Tatsachen himmelan flogen, hat sich einst die Natiir])hilosophie
um allen Kredit gebracht.
So haben wir also zwischen guten und schlechten Hypothesen zu scheiden,
und nur von den guten soll ferner die Rede sein; es sind solche, die die Naturforschung
sich gefallen lassen dai-f, weil sie im Einklang mit ihren Tatsachen stehen.
Durch die feste Grundlage, die fortan die Forschung der Philosophie gewährt,
bewahrt sie diese vor Irrungen und Ansschreitungen. Dafür erzeigt die Philosophie
der Forschung- sich nützlich, indem sie letztere durch neue Hypothesen zu immer
neuen Beobachtungen herausfordert. Sagt doch schon der Philosopli von Sanssouci,
der in seinen Bemerkimgen gewöhnlich den Nagel auf den Koi>f trifft, in einem am
18. August 1761 an den Ma r q u i s d 'A r g e n s gerichteten Briefe: „Die spekulative
Philosophie taugt nur dazu, unsere Neugierde zu nähren.“ Ja, eine solche Neugierde
im edelsten Sinne des Wortes ist die wahre Triebfeder der Naturforschimg.
Man könnte fast sagen : in der Hypothese berührt sich die Wissenschaft mit
der Kunst. Denn das Wesen der Hypothese ist Dicht ung . Dichtung ist keineswegs
Verneinung der Wahrheit, im Gegenteil: jede Dichtung birgt einen Kern von
Wahrheit, der nur umwoben wird vom Zauber der Phantasie, der Kunst; sie kann
niclit nur, sie soll Wahrheit enthalten. Insofern der Naturforscher auch Hypothesen
anfstellt, ist er Dichter, und wer nicht alle Hypothesen zurückweist, nimmt ein gutes
Stück Dichtung in seine Natnranschaunng auf.
Mit H e i n r i c h H e r t z '■) erblicke ich das Ziel der Naturwissenschaft darin,
geistige Nachbilder der Naturvorgänge und ihrer Beziehungen zueinander zu gewinnen.
Ich habe an anderer Stelle mich so ansgedrückt, daß die von uns ermittelten einzelnen
Tatsachen Mosaiksteinen gleichen, die wir durch einen Kitt von Hypothesen unter
Zuhilfenahme der Phantasie zu einem Bilde zu vereinigen suchen ; unablässig müsse
unser Bemühen dahin gehen, die Fugen zivischen den Mosaiksteinen so schmal wie
möglich zu machen. Der ausgezeichnete Mathematiker P o in c a r é gibt in seinem
Buche „La science et l'hypothèse“ (Deutsche Ausgabe, S. 143) dem gleichen Gedanken
folgenden Ausdi-uck : „Man stellt die Wissenschaft aus Tatsachen her, wie man ein
Haus aus Steinen baut; aber eine Anhäufung von Tatsachen ist so wenig eine Wissenschaft,
wie ein Steinhaufen ein Haus ist.“
1) Die große Bedeutung von H e r t z ’ Mechanik auch für die Biologie habe ich dargelegt in
meinem Aufsatz: M e c h a n ik u n d B i o l o g i e , Deutsche Rundschau, Jahrg. 28 (1901), Heft ß.
Hypothesen sind hier das Band, durch das Steine und Balken zu einem
Hause, Mosaikstückchen zu einem Bilde vereinigt werden. Diese Hypothesen sind
vom Verstände ersonnene und erschlossene E r g ä n z u n g e n des Tatsachenmaterials.
Wir liaben uns nur davor zu hüten, die Hy])othesen mit den Tatsachen zu verwechseln
oder dogmatisch den Tatsachen gleich zu setzen: das würde zu I l l u s ione n
führen, die der Wissenschaft nicht zur Ehre gereichen.
Ein paar Beispiele mögen das Gesagte erläutern. Die denkende Verknüpfung
der Erscheinungen des Lichts, der strahlenden Wärme, der Elektrizität hat zur Ergänzungshypothese
des Ätliers geführt. Die Vereinigung der chemischen Tatsachen zu
einem Gesamtbilde führte zu den Ergänzungshypothesen der Atome, der Moleküle,
der stereochemischen Molekularstriiktur, der Atom- und Molekulargewichte usw. Wer
wollte es wagen, diese geistigen Ergänzungen, in der wir eine ganze Welt von
Beziehungen zu faßlichem Ausdi-uck bringen, aus dem wissenschaftlichen Bilde der
Gegenwart zu streichen? Und docli sind alle jene Begriffe nicht Tatsachen, sondern
provisorische Urteile. Es ist unerlaubt, den Äther und die Moleküle den Tatsachen
zuzurechnen. Wir dürfen nur sagen: es sielit so ans, die Tatsachen laufen so ab,
als ob die Verbindungen sich in Molekülen sonderten, als ob Atome und ein Äther
da wären.
Je größer die Tragweite einer solchen Hypothese, um so höher ihr wissenschaftlicher
Wert. Der Äther, die Moleküle, die Atome sind dadurch zu Vo r a u s s
e t zu ng en der Forschung geworden und haben als solche einen hohen (wenn auch
lediglich provisorischen) Wert für den Fortschritt dei- Wissenschaft gewonnen. Niemand
wird sie mit willkürliclien, ans der Luft gegriffenen Fiktionen verwechseln. Letztere
wären als unzulässig durchaus zu verwerfen; sie führen zu schädlichen Vorurteilen,
wie die zulässigen Ergänzungshypothesen nützliche Voraussetzungen der PMrschung
sein können, in dieser Hinsicht den Axiomen sich nähernd. Die Axiome sind im
Grunde auch nur hypothetische Voraussetzungen, an deren Richtigkeit niemand zweifelt.
Eine solche Voraussetzung ist z. B. die unerschütterliche Überzeugung von der Beständigkeit
der physikalisch-chemischen Gesetze. Wir zweifeln nicht daran, daß jene
Gesetze vor Milliarden von Jahren die gleichen waren, wie heute, und daß sie in
alle Zukunft unverändert bestehen werden; die Erfahrung reicht aber nicht aus, diese
Überzeugung zu bekräftigen.
Doch es wird Zeit, daß wir unsere Beispiele der Biologie entlehnen, der uns
näherliegenden Wissenschaft von den Pflanzen und Tieren.
Ich möchte mir erlauben, das Wesen der biologischen Vorgänge zunächst an
einem Modell zu erörtern, das uns lauter Tatsachen vor Augen stellt in einfachster
und durchsichtigster Form, so daß wir der Ergänzung durch Hypothesen gar nicht
bedürfen: es ist das eine Partie Billard. Vielleicht könnte man so weit gehen, zu
sagen, die Partie Billard sei selbst ein biologisclier Voi-gang, da sie sich ohne Mitwirkung
eines lebendigen Menschen gar nicht vorstellen läßt. Man denke sich einen
Automaten, einen mechanisclien Apparat, der auf dem Billard die Bälle hin und her
wirft: nie wird er eine Partie zustande bringen. Ich wenigstens halte dies für so
undenkbar, so unmöglich, wie das Perpetuum mobile.