Durch Luftströimmgen köniieii solche Körper aber nie aus der Erdatinosi)häre entfernt
werden; A r r h e n i u s zieht die Möglichkeit heran, daß die Abstoßung durch elektrische
Kräfte erfolge. Die Köi-])erchen müßten dann negativ elektrisch geladen sein. Die
Fortbewegung der Sporen im Weltraum soll hierauf durch den von Ma x w e l l entdeckten
Strahlungsdruck des Sonnenlichts geschehen. Dieser würde solchen Sporen im Weltraum
bald eine enorme Geschwindigkeit erteilen, und er dürfte für die Überführung von
Lebewesen von einem Planeten zum ändern eine große Rolle spielen. Die Sporen würden
bei einem Durchmesser von 1 Zehntausemlstel Millimeter von der Erdoberfläche
zum äußersten Planeten uusei-es Sonnens}^stems etwa ein halbes Jalii-, bis zum nächsten
Fixstern 3000 .lahre gebrauchen. Auf solche Weise sollen alle neu entstandenen
Planeten alsbald besamt werden.
Wenn schon das Ilinausschleudern der Siioren aus der Atmosphäre eines
Planeten in den Weltraum durch Elektrizität eine der Erfahrung unzugängliche
Hypothese ist. so hat es doch A r r h e n i u s unterlassen, auch nur die Möglichkeit zu
ei-örtern, wie die Sporen aus dem Weltraum lebend in die Atmosphäre unserer Erde
gelangen können. Ich meinerseits halte dies für unmöglich, weil ich überzeugt bin.
daß sie vermöge ihrer Geschwindigkeit sclion beim Anprall an die Sanerstoflinoleküle
der äußersten Luftschicht verbrennen müßten.
Diese Besamiingshypothese, die lediglicli Möglichkeiten diskutiert, wurde
ersonnen, um einen tellurischen Ursprung der Oi’ganismen zu vermeiden, da ihre
Anhänger von der Unmöglichkeit der Urzeugung überzeugt sind. Ich meinerseits
halte aber auch die Besamung ans dem Weltraum für überaus unwahrscheinlich.
Was bleibt da übrig?
Für die biologische Forschung genügt es, das Dasein der Organismen als
etwas Gegebene s hinzimehmen, wie sie das Dasein der Materie als etwas Gegebenes
hinnimmt. In diesem Sinne hat sich auch W i e s n e r ausgesprochen 0-
Wenn icli dagegen von naturi>hilosophischem Gesichtspunkt aus erkläre: Es
sieht mir so aus, als ob nach dem Erkalten des Erdballs intelligente Kräfte eingesetzt
haben, um aus den Verbindungen der Erdkruste lebendige Urzellen zu gestalten, so
braucht sicli die Naturforschung durch solches Urteil nicht beeinflussen zu lassen.
Als zweites in diese Gruppe von Hypothesen gehöriges Beispiel nenne ich
D a sw in s Selektionslehre mit Einschluß der ihr von W e i sm a n n gegebenen Erweiterung.
Auch sie beschränkt sich auf die Erörterung von Möglichkeiten, da noch niemand
b eoba c h t e t hat. daß eine neue Art oder auch nur ein neues Organ wirklich durch
Naturzüchtung entstanden ist. Obgleich die ganze Selektionshypothese vielleicht irrig
ist, hat sie dennoch durch die von ihr ausgeliende Anregung wichtige Fortschritte
der Wissenscliaft herbeiführen helfen. Selbst eine falsche Hypothese kann als Arbeitshypothese
unter Umständen segensreich wirken.
Mögen Selektionslehre wie Besamiingshypothese richtig oder unrichtig sein,
mögen sie uns wahrscheinlich oder unwahrscheinlich dünken, sie beruhen beide lediglich
auf naturphilosophischer Spekulation.
1) W i e s n e r , Die Beziehungen der Pflanzenphysiolngie zu anderen Wissensehaften. Wiener
Rektoratsrede von 1898.
Ich eile zum Schluß. Der wahre Geist der Wissenschaft zeigt sich - darin,
daß, wenn wir ratlos vor der großen Sphinx stehen, wir den Mut haben, dies zu
sagen, mag auch Trauer und Resignation uns erfüllen. Das Mysterium hebt schon
an mit der Grundfrage: Haben die Bilder unseres Bewußtseins ihren Ursprung in uns
selbst oder werden sie durch Einwirkung einer Außenwelt in uns erzeugt, ausgelöst?
Auch die Phantasie ist als Wissenschaftsfaktor unentbehrlich, ohne sie gelangen
wir nur zu farblosen und öden Abstraktionen. Denken und Phantasie wirken zusammen
am Aufbau unserer wissenschaftlichen A^orstelliingen.
Erkennt man eine Hypothese nicht als solclie, so ist Gefahr, daß sie zur
Illusion werde; davor haben wir uns zu hüten. Ein abschreckendes Beispiel sind die
mit dogmatischer Sicherheit konstruierten Stammbäume der heute lebenden Pflanzen
und Tiere. Machen wir so viele Hypothesen, wie wir wollen — nur müssen wir uns
ganz klar darüber sein, daß es Hypothesen sind.
So gelangen wir zum Friedensschluß zwischen Forschung und Hypothese.
Der Friedensschluß besteht darin, daß wir wissen, was Tatsache und was Hypothese
ist, und daß wir nur solche Hypothesen zulassen, die den Tatsachen nicht widersprechen.
Die Arb e i t s h y p o t h e s e wird dann Werkzeug der Forschung.
Wir können die Naturwissenschaft vergleichen einem Gewebe, zu dem die
Naturforschung den Aufzug, die Naturphilosophie den Einschlag liefert. Die von
beiden gesponnenen Fäden müssen verschiedene Farben haben; daß diese Farben
sich nicht verwischen, sei unsere Sorge.
Überall stoßen wir in den Naturwissenschaften auf ein : „es scheint, als ob . . .“
und kommen über Wahrscheinlichkeitsabwägungen und Wahrscheinlichkeitsbegriffe
nicht hinaus. Das ist menschlich, ist ein Kennzeichen menschlicher Wissenschaft.
„Wenn man die Wahrscheinlichkeitsrechnung verwirft,“ sagt P o in o a r e in seinem
schönen Buche (S. 187), „so verwirft man die ganze Wissenschaft.“