
ein Symbol der Abwehr und vergegenwärtigt die heutige Kriegführung
der Chinesen, die mit mächtigen Mauerfronten, Tausenden
unbrauchbarer Geschütze, mit gewaltigem Knallen, Fahuenschwenken,
mit Grimassen und pomphaften Drohungen den Feind in die Flucht
zu schlagen denken. Man möchte bezweifeln, dass die Mauer auch
nur die räuberischen Streifzüge einzelner Horden hemmte; denn
zur Vertheidigung ist sie zu ausgedehnt, unvertheidigt aber bietet
sie kein Hinderniss. Weder die Heere der Mongolen im 13. noch
die der Tartaren im 17. Jahrhundert hielt die Mauer auf. Schwache
chinesische Herrscher haben immer vor diesen nur dem Namen
nach tributpflichtigen Nachbarn gezittert, den Frieden erkauft. Das
regierende-Haus der T s in ist dem Stamm der Mandschu-Tartaren
entsprossen und herrscht über China, weil es sich dessen überlegene
Gesittung aneignete; denn die Masse und die Cultur des
chinesischen Volkes sind zu bedeutend, um nicht immer wieder
eine fremde Gewaltherrschaft abzuschütteln. Die T s in verbinden
sich ihre Stammgenossen durch Verleihung einflussreicher Äemter,
zu denen sich der Chinese nur durch angestrengtes Arbeiten empor-
schwingen kann, und haben von dieser Seite nichts zu befürchten.
Die Mongolenfürsten aber sucht das Kaiserhaus noch heut beständig
durch Wechselheirathen an sich zu fesseln, und ruft nur im
äussersten Nothfall deren Streitkräfte in das Reich. Unterdessen
dringen Chinesen colonisirend immer weiter nach Norden und
Westen vor und strecken hundert Fühlfäden über die grosse Mauer
hinaus. Wo sie Fuss fassen, überflügelt ihre höhere Gesittung die
rohe Einfalt der Nachbarn; die wüste Hochebene G o b i setzt ihnen
jedoch eine natürliche Grenze, nicht aber den wilden Nomaden,
deren Heimath sie ist. Nur dem Namen nach tributpflichtig, bleiben
diese ein drohendes Wettergewölk am Horizont, dessen Schlägen,
wenn es sich zusammenballt, das chinesische Reich periodisch immer
wieder erliegen muss.
Solche Gedanken musste die Aussicht von jenem Gipfel erwecken.
Nach Norden breitet sich am Fuss der steil abfallenden
Hänge eine weite grüne Fläche aus, begrenzt durch fernes Gebirge:
das ist der Abhang des unermesslichen Hochlandes G o b i .
Am Fusse dieser Terrainstufe liegt K a l g a n , der berühmte Sammelplatz
der Karawanen aus der Mongolei, aus Tibet und Turkestan.
Eine zweite Linie der grossen .Mauer säumt, hart hinter K a l g a n
vorbeistreifend, die Wurzeln des steil ansteigenden trockenen Hochlandes.
Dessen Contrast mit der üppig grünen zwischen den beiden
Armen der Mauer liegenden Ebene an seinem Fusse soll wunderbar sein.
Die Sonne ging den Reisenden in einem Gluthmeer hinter
zackigen Gipfeln unter; sie übernachteten im nahgelegenen T s a - t a u
jenseit der Mauer, bestiegen dieselbe nochmals am folgenden Morgen
und verfolgten sie eine Strecke in östlicher Richtung. Dann
kehrten sie auf dem beschriebenen Wege nach P e - k in zurück.
Die Zeit war in P e - k i n allzuschnell verstrichen. Am 3 . Oc-
tober Mittags nahmen Graf Eulenburg und seine Begleiter von ihren
gütigen Wirthen Abschied und ritten nach T u n - t s a u . Das Gepäck
war vorausgeschickt und schon in die Boote gestaut; es bedurfte
nur noch eines kräftigen Griffes in die Dollars, um welche sich die
Bonzen, welche unsere zurückgelassenen Sachen verwahrten, Karrenführer,
Packträger und dienstfertige Mandarinen mit löblichem
Wetteifer bewarben. Gegen fünf Uhr wurden wir flott; es war ein
köstlicher Herbsttag; die anmuthigen Ufer des P e i - h o glänzten in
mildem Sonnenschein. Gegen Dunkelwerden versammelte man sich
im Speise-Boot; um elf Uhr Abends wurde angelegt und die Nacht
über gerastet. Ebenso die folgenden Tage. Die behagliche Ruhe
der Flussfahrt mundete köstlich nach dem bewegten vollen Leben
in P e - k i n , an dessen Eindrücken wir lange zehrten. Den Fluss
belebten viele grosse Dschunken, die Reis und Getreide nach der
Hauptstadt brachten. Der Anblick des Landes war sehr verändert;
die üppigen Ernten fielen in der Zwischenzeit .unter der Sichel des
Schnitters, und der Blick schweifte nun unbeschränkt über die
flachen Ufer. So wurden viele Dörfer, Tempel upd ländliche Ansiedlungen
sichtbar, welche die fünfzehn Fuss hoch wachsende
Durra früher versteckte.
Wir glitten langsam* den Fluss hinab und gelangten am
Abend des 4. October nach H o -si^wu . Den 5. Morgens konnte
man bei günstigem Winde Segel spannen und schoss nun pfeilschnell
vorwärts. Mittags erreichten die Boote Y a n - t s u n ; Abends
legten sie bef den Vorstädten von T i e n - t s in an. Bei Tagesgrauen
benutzten die Schiffer die einsetzende Ebbe z.ur schnelleren T h a lfah
rt, und bald nach sieben grüssten wir heiter und erfrischt die
Räume, wo besonders der Gesandte so qualvolle Tage verlebte.