
anschlägen ohne Schonung blossgestellt, oft scharf gegeisselt und
verhöhnt, ohne dass die Behörden dagegen einschritten So gross
ist die Macht der Gewohnheit, dass jed e r Versuch dieses alte Recht
zu schmälern wahrscheinlich zuin Aufruhr führen würde. In vielen
Fällen sucht die Regierung selbst durch Maueranschläge auf die
öffentliche Meinung zu wirken.
Um P e - k in gründlich zu sehen war unser Aufenthalt zu
kurz; die schonenden Rücksichten gegen die chinesische Regierung
brachten uns auch um den Besuch vieles Sehenswerthen. Der ausgeprägte
Typus des Ganzen machte aber Allen den mächtigsten Eindruck,
man spürt auf Schritt und T ritt den historisch merkwürdigen
Boden. Die organische Anlage der Stadt mit ihrer grossen
nordsüdlichen Mittelaxe, in welcher die Hauptthore, der kaiserliche
Palast und der ihn schirmende Kohlenberg, das Gesicht nach Süden
gewendet, gleichsam das Reich überschauen, die endlosen breiten
Strassen mit dem prächtigen Ornament und dem bunten lebendigen
Treiben, die grossen parkartigen Gärten mit ihren Denkmälern und
Lusthäusern, ihren lotusbewachsenen Seen, Marmorbrücken und
Granitquais, die dunkelen ehrwürdigen Tempel und Kloster, die
mächtigen in schönem Ebenmaass der Verhältnisse erbauten Tlior-
gebäude und die gewaltigen Massen der Ringmauer bilden ein Ganzes
von ernster bedeutender Wirkung. Die alte politische Grösse von
China, der gebietende Willen des Himmelssohnes sprechen sich
wohl nirgend so schlagend aus, wie in der Einheit dieser Anlage,
vor Allem in den colossalen einfachen Mauerlinien der Festungswerke.
Doch ist es der düstere Eindruck vergangener Grösse, begrabener,
modernder Gewalt, sonderbar erhöht durch eine dicke
Schicht bleichen Staubes, die, fast beständig auf P e - k in lagernd,
den sinkenden Bauten das gespenstisch greisenhafte Ansehn verflossenen
Daseins giebt.
Dr. Lucius machte von P e - k i n aus mit einigen Herren von
der russischen Gesandtschaft einen Ausflug nach der grossen chinesischen
Mauer. Sie ritten am 28. September Morgens aus dem westlichen
Nordthor der Tartarenstadt und verfolgten die über hundert
Schritt breite, mit alten Bäumen gesäumte Kunststrasse, welche
von da schnurgrade nach Norden läuft. Karawanen schwer beladener
Kameele und Maulthiere mit mongolischen Treibern, lange
Züge zweirädriger Karren mit Pferden, Ochsen und Eseln bespannt
zeugten vom lebhaften Verkehr der Hauptstadt mit den Gegenden
jenseit der Mauer, mit den nomadischen Stämmen des Nordens, die,
durch die Grundbedingungen ihres Lebens der chinesischen Cultur
fremd, das Reich Jahrtausende hindurch bedrängt, überfluthet und
periodisch unterjocht haben. — Tausende von Arbeitern besserten
damals unter Aufsicht von Mandarinen die Strasse für den Einzug
des jungen Kaisers aus. — Vier L i40) vom Thore passirt man eine
breite, etwa 360 Schritt lange, aus colossalen Quadern gefügte
Brücke, bis zu welcher sich Reihen von Kaufläden, Schenken und
Herbergen erstrecken. Jenseit liegt ein ansehnlicher Flecken; von
daläuft die Strasse durch D u rra -, Mais-, Bohnen-und Solanum-Felder,
die auch hier meist mit Ricinus-Stauden gesäumt sind. Die Ernte war
überall im Gange. Etwa 60 Li von P e - k i n führt eine der beschriebenen
ähnliche Brücke in die Stadt T sa - k a u , und kurz hinter derselben setzt
eine eben so gewaltige über ein winmges Flüsschen. Da die
Quadern des Pflasters theils auseinandergewichen, theils von fuss-
tiefen Wagenspuren durchfurcht sind, so reitet oder fährt man
lieber durch den Fluss. — Der ebene sandige Weg läuft immer
nördlich auf das Gebirge zu und mündet endlich in.eine Thalmulde,
wo Mauerreste und alte Thürme stehen; hier wird die Strasse steinig
und beginnt zu steigen.
Etwa 10 Li weitfer und 95 Li von P e - kin liegt das wenige
Häuser zählende Oertchen Nam- kau, wo die Reisenden schliefen.
Sie fanden dort, wie in chinesischen Herbergen gewöhnlich, gute
Stallung, für sich selbst aber nur die Bequemlichkeit, die sie mitbrachten.
Nach einem Ritt von sieben deutschen Meilen fehlt aber
weder Appetit noch Schlaf; die Reisenden waren obenein mit allem
Nothwendigen und Ueberflüssigen versehen und brachten eine behagliche
Nacht zu.
Von N a m - k a u aus pflegt man der schlechten Wege halber
Maulthiere zu benutzen, welche den über K i a k t a nach I r k u t s k
gehenden russischen Courieren in vertragsmässig bestimmten Relais
gestellt werden. Sie bezahlen nach Gutdünken, je nachdem sie zufrieden
sind. Da aber Dr. Lucius und seine russischen Gefährten
nicht in amtlicher Eigenschaft reisten, so' suchten die schlauen Chinesen
das Mögliche zu erpressen; sie forderten 5 und nahmen nach
*>) 14 Li = 1 deutsche-Meile.