
schon am 10. September Abends an Bord, da vor Tagesgrauen abgefahren
werden sollte; gegen vier Uhr Morgens fingen die Bootsleute
an zu lärmen, hatten dann aber am Lande noch allerlei Verrichtungen;
erst um sechs ging es fort. Fast vier Stunden lang
fuhr man zwischen den Vorstädten von T i e n - t s in und mehreren
Dörfern hin, welche sie in ungebrochener Häuserreihe fortsetzen.
Hunderte von Fahrzeugen lagen theils im P e i - h o geankert, theils
benutzten sie die einsetzende Fluth zur F ah rt flussaufwärts. Die
grosse hier auf dem Wasser und am Lande wohnende Menschenmenge
giebt der problematisch klingenden Angabe einige Haltung, dass
die Bevölkerung der Provinz T s i - l i vierzig Millionen betragen soll.
Eine rechte Erlösung war e s , den Dünsten von T ie n - t s in
zu entfliehen, einmal aus voller Brust reine Luft zu athmen. Die
Sonne schien hell und klar, friedlich lachte die Landschaft, welcher
Weiden-, Apricosen-, Apfel-, Birn- und Pfirsichbäume und grüne
Felder ein fast heimisches Ansehn gaben, wenn auch Mais. Durra,
Ricinus, die Eierpflanze und andere Gewächse bei näherem Anblick
den südlicheren Himmelsstrich bekunden. Wo Dörfer den Fluss
säumen, kam gewöhnlich die Jugend an das Ufer gelaufen; alle
weiblichen Wesen aber flohen scheu in die Häuser, wenn die »fremden
Teufel«» ausstiegen. Streckenweise ist der Blick durch hohe
Uferdämme beschränkt, über die nur die Wipfel der Bäume ragen.
In der Nähe von T i e n - t s in förderte die Fluth mehrere
Stunden lang die Reise ; auch höher hinauf erleichterte sie periodisch
die Arbeit der Schiffer. Diese zogen, bald auf dem festen Uferdamm,
bald bis über die Knie im Schlamm, ja bis an die Brust im
Wasser gehend, je zwei ein Boot am Seil hinauf und arbeiteten,
mit kaum zweistündiger Pause, von fünf Uhr Morgens bis zehn
Uhr Abends bei über 20° Wärme. Ihre ganze Nahrung war ein
Schüsselchen Nudeln und ein Stück Teig, den sie aus Mehl und
Wasser mengten und über flackerndem Rohrfeuer rösteten. Als
Lagerstatt diente ihnen das Verdeck der Boote oder ein Raum
darunter, der auf anderthalb Fuss Höhe kaum fünf im Geviert maass
und durch Planken oben verschlossen wu rd e , so dass man schwer
begriff, wie dort zwei Menschen nicht stickten. Die Schiffer plauderten
und scherzten den ganzen Tag bei der schwersten Arbeit
und schienen die glücklichsten Menschen unter der Sonne. Junge
Burschen von vierzehn Jahren zeigten die Kraft und Ausdauer des
vollen Mannes, arbeiteten freudig und unverdrossen.
Am Abend des 11. September gelangten die Boote nach
Y a n - s u n , ain 12. nach H o -s i-w u . Die dritte Nacht wurde bei
M a - t a u gerastet. Das Gebirge hinter P e - k i n , das schon am 13. September
im Nordwesten aufdämmerte, rückte am 14. immer näher.
Nachmittags wurde die Pagode von T u n - t s a u sichtbar; die Reisenden
stiegen aus und trafen, am Ufer wandernd, Dr. Lucius, Maler
Berg und Herrn de Meritens, der aus P e - k in angekommen war. —
Vor T u n - t s a u verengt sich der Fluss; mühsam arbeiteten sich die
Boote durch das Dschunken-Gedränge.
Die Stadt ist reinlicher, dem Aussehn der Gassen nach weniger
volkreich als T ie n - t s in , das Mauerviereck nicht so regelmässig
und in argem Verfall; an vielen Stellen sind die Zinnen zerstö
rt, der Mauerweg eingesunken. Jede Front h a t ih r Thor; an
die Eekthürme lehnen malerische Häuser. Das merkwürdigste
Bauwerk ist die dreizehnstöckige Pagode in der nordwestlichen
Ecke der Stadt; der achteckige Unterbau aus grossen Quadern
macht den Eindruck hohen Alters; das Erdgeschoss krönt eine
mächtige Lotosblume, ebenfalls von Quadern, aus welcher der dreizehnstöckige
Thurm fast ohne Verjüngung emporwächst. Die gedrückten
Stockwerke, eine Reihe aufeinandergestülpter vorspringender
Dächer aus Holz und Ziegeln, haben weder Galerieen noch
Thüren oder Fenster. Die Spitze krönt ein Zierrath aus vielen in
einander verschlungenen Metallreifen, einem Astrolabium ähnlich,
vielleicht eine symbolische Darstellung des H im m e ls^ - Man schreibt
der Pagode hohes Alter zu; ihre Bauart unterscheidet sich wesentlich
von der der süd- und mittelchinesischen, gleicht dagegen derjenigen
der Pagoden in P e - k in und scheint typisch zu sein für den
Norden des Reiches.
Die Umgebung von T u n - t s a u ist freundlich: prächtige Baumgruppen,
bunte Tempel und hübsche steinerne Brücken spiegeln
sich in künstlichen Wasserbecken, welche der von P e - k in herab-
fliessende Canal speist. Leider begann es am Abend des 14. September
zu regnen; am folgenden Morgen waren die Wege durchweicht.
Gegen acht gelang e s, die Karren mit dem Gepäck in
Marsch zu setzen; bald darauf empfing der Gesandte die Spitzen
der Behörden, die sich zur Begrüssung einfanden, und brach dann
zu Pferde nach P e - k in auf. Der Himmel hing voll schwerer Regenwolken,
die Luft war dick und feucht, doch sprühten nur leichte
Schauer auf uns herab.