
TIEN TSIN.
VOM 30. JUNI BIS 11. SEPTEMBER.
A n fa n g Juli wurde die Hitze in T i e n - t s in unerträglich; selbst
die Nächte boten nicht Kühlung. Vom frühen Morgen zeigte das
Thermometer über 30° R., in der Nacht kaum unter 28°. Zwischen
drei und vier Uhr Morgens pflegten wir uns auf dem Hofe zu versammeln,
die lauere Luft zu athmen. Am nordwestlichen Horizont
lagerten stets dichtgeballte W olkenmassen; in P e - k in , selbst in Ho-
si-w u gab es erfrischende Güsse; selten verirrte sich aber nach
T ie n - t s in ein leichtes Wölkchen, das wie spottend einige Tropfen
über uns ausspritzte. Selbst diejenigen Engländer, welche Indiens
heisseste Plätze kannten, fanden es hier viel schlimmer. Denn
dort steht jedes Haus allein und ist mit wirksamen Vorrichtungen
zur Kühlung versehen; T ie n - t s in dagegen ist eine compacte Häuser-
masse mit engen Gassen und Höfen; die Sonne brennt durch die
Dächer der einstöckigen Gebäude bis in die Zimmer hinein, die
Backstein- und Lehmwände saugen sich voll Gluth und strahlen
sie bei abgekühlter Luft gleich Oefen wieder; Abends wird man
heiss davon angeblasen. Zuweilen regte sich die Luft; aber der
Hauch wehte sengend, wie aus durchglühter Wüste. Die Hygrometer
standen auf dem Nullpunct. Man fühlte ein namenloses Unbehagen;
die Esslust schwand, und den brennenden Durst zu löschen
fehlten oft die Mittel; denn das Wasser von T i e n - t s in ist, selbst
m it. Alaun geklärt, ungesund, filtrirte und kohlensaure Getränke
könnten nicht in genügender Menge beschafft werden. Bier und
Wein erhitzten das Blut, das gewaltsam zum Gehirn strömte,und
häufigen Schwindel erzeugte, wogegen man sich durch Auflegen
nasser Schwämme oder Uebergiessen des Kopfes mit eiskaltem
Wasser zu schützen suchte. Diese Vorsicht war geboten, denn die
Hitze wirkte verheerend wie eine Seuche. Von der 3800 Mann
starken englischen Garnison lagen Mitte Juli 360 in den Lazarethen;
in den heissesten Tagen starben davon durchschnittlich 8, — vom
18. bis 24. Juli 50 Mann, — ohne dass Epidemieen herrschten, nur
an den Folgen der Hitze. Der Zustand war unheimlich; die Meisten
beschlich das Uebel im Schlafe und führte in einer halben Stunde
zum Tode, ohne dass der Kranke zum Bewusstsein kam. Wer un-
thätig zu Hause blieb, war ebensowenig davor sicher, als wer sich
der Sonne aussetzte und körperlich anstrengte. Die Aerzte wussten
der Krankheit keinen Namen zu geben, und fanden in den seltensten
Fällen Mittel dagegen. Der beginnende Andrang des erhitzten Blutes
nach dem Gehirn machte schläfrig; dann wurden die Wallungen
heftiger und erstickten den Kranken, der* unter hohlem Röcheln
verschied. Bei der Section pflegten die Aerzte den Körper in normalem
Zustande, nur alle zum Gehirn führenden Gefässe zum Platzen
mit Blut von höchster Temperatur gefüllt zu finden; die Leiche
blieb Stunden lang glühend heiss. Blutergiessungen, wie beim Gehirnschlag,
wurden niemals beobachtet. Im erstén Stadium des Schwindels
nur halfen die kalten Uebergiessungen; nachher blieb jedes Mittel,
auch das Oeffnen der nach dem Gehirn führenden Schlagadern ohne
Wirkung, das die Aerzte in verzweifelten Fällen versuchten.
Graf Eulenburg verlor an diesem Uebel seinen Kammerdiener
Paul, einen braven zuverlässigen Mann, den wir alle schätzten. Er
war an Dyssenterie erkrankt, aber ganz davon hergestellt; wegen der
zurückgebliebenen Schwäche jed e r Arbeit, enthoben, pflegte er sich
im Hause herumzuhewegen und früh zur Ruhe zu gehen. Am
21. Juli besuchte ihn Dr. Lucius noch um sieben .Uhr Abends
in seinem Zimmer, fand ihn heiter und behaglich und merkte kein
beunruhigendes Symptom. Nach Tisch plauderten wir im Hofe ; der
Attache Graf Eulenburg wollte gegen zehn aus des Gesandten
Räumen etwas holen und hörte in Pauls daran stossendem Zimmer
ein sonderbares Schnarchen. Dr. Lucius fand ihn röchelnd, mit
gebrochenem Auge. Wir hoben ihn aus dem Bett, brachten ihn in
die Luft und übergossen auf Dr. Lucius Anordnung den Kopf mit
kaltem Wasser. Aus dem nahen englischen Lazareth kamen mehrere
Aerzte herbei, Paul athmete kaum. Es war wenig nach zehn
als alle Zeichen des Lebens schwanden; aber der Körper blieb
glühend heiss bis zum folgenden Morgen. E r wurde unter dem
Geleit der ganzen Gesandtschaft auf dem Friedhof der englischen
Garnison an der südlichen Stadtmauer beigesetzt, wohin sich damals
täglich mehrere Leichenzüge bewegten.