
redende Schönheitssinn steht in grellem Contrast zu ihrem geschmacklosen
Cultus: in den Tempeln sitzen die grässlichsten
1 ratzen. In einem derselben fanden wir, in vielen Reihen eine
ganze Wand bedeckend, 1200 ganz gleiche bunte Thonpuppen eines
weiblichen Götzen, gegenüber sechs colossale Goldgötter von teuflischer
Hässlichkeit. — Weiter hinauf führt der gut gehaltene Weg
durch lichten Laubwald, meist Eichen;29) hier und da steht ein
Holzportal, ähnlich denen in P e - k in . Die le'tzte Strecke bis zur
Kammhöhe steigt man über Geröll und Buschwerk. Die Aussicht
is t herrlich: unten zwischen dichten Wipfeln die über einander geschichteten
Tempel, der Dörferkranz am Fuss des Gebirges mit
seinen Hainen und Gärten; von da wie eine Landkarte ausgebreitet
die unabsehbare grüne Ebene, aus der nordöstlich die Hügel von
Y u a n - m in -Y u a n aufsteigen; in blauer Ferne die Mauern und Thore
von P e - k i n , das sich als eine Reihe dunkeler Linien und Puncte
auf der baumreichen Ebene zeichnet; das ganze Land ein unabsehbarer
Garten. Auf der anderen Seite die Einöde: über kahle
schroffe Hänge blickt man in ein tiefes Thal mit ebener Sohle ohne
jeden Anbau hinab; jenseit steigt in jähen zerklüfteten Massen ein
hohes Felsgebirge auf, dahinter Reihe auf Reihe zackiger Gipfel;
dort geht es nach der Mongolei.
Langsam hinabsteigend fanden wir gegen vier unsere Pferde
wieder und ritten auf anderem Wege nach P e - k in zurück; Kameele
und Esel bedeckten, Kalk und Kohlen von den Bergen heranschleppend,
in langen Zügen die Landstrasse. In einem Dorf lag
mitten auf dem Wege ein Bettler, gänzlich entblösst, an den abgemagerten
Gliedern grässliche Schwären voll nagender Würmer, in
den letzten Qualen des Todes röchelnd. Vergebens b a t Herr de
Meritens die Bewohner der nächsten Häuser, ihn aufzunehmen;
Niemand rührte sich; vielleicht hatten sie selbst ihn dort hingelegt.
Das chinesische Gesetz fordert nämlich von Demjenigen, vor dessen
Haus ein Leichnam gefunden wird, Rechenschaft über seine Todesa
rt und verpflichtet denselben, für sein Begräbniss zu sorgen, ja
sich der Hinterbliebenen anzunehmen. Der Sinn dieser Vorschrift
mag menschenfreundlich sein, praktisch wirkt sie das Gegentheil;
der Chinese gewöhnt sich von frühester Jugend, seinen Nächsten
auf der Strasse leiden und scheiden zu sehn, ohne ihm beizuspringen.
' " ) Quercus sinensis.
Auf Befehl des Ministers W e n - s ia n blieb ein T h o r der
Tartarenstadt bis zu unserer Rückkehr offen; gewöhnlich werden
sie bei Sonnenuntergang geschlossen. Es dämmerte schon; in den
Strassen drängten sich grosse Menschenmassen, meist Tagelöhner,
die von der Arbeit zu kommen schienen. Unsere zwanzig Pferde
starke Cavalcade wurde reichlich begafft, die Ordnung aber keinen
Moment gestört; ohne Anstoss ging es durch das dichte Gewühl.
Am 25. September ritten wir abermals nach den Bergen;
Herr Bruce hatte beim Tempel der Weissen Wolke P i - y u n - se
— ein Frühstück vorbereitet. Vom nördlichen Thor der W e stmauer
ging es zunächst nach dem Friedhof, wo die Franzosen im
Feldzug 1860 ihre Todten bestatteten. Der Ort ist reizlos, in-einer
dürren Höhlung gelegen; die gepflanzten Bäume fristen ein kümmerliches
Dasein. Vor den einfachen in einer Reihe liegenden Gräbern
stehen Denksteine mit Inschriften. In elender Hütte wohnt ein
katholischer Priester, der Christenkinder aus den umliegenden
Dörfern unterrichtet.
Der Weg zum Gebirge gleicht dem nach dem westlicher
gelegenen Tempel des Drachenkönigs, führt aber in grösserer Nähe
an den Gärten des Sommerpalastes vorbei. Die Ausläufer des^ Gebirges,
dessen Kammhöhe hier 1800 Fuss betragen mag, sind noch
reicher, angebaut; zwischen den Dörfern stehn palastartige Villen
und kaiserliche Jagdschlösser; eine Unzahl verfallener Wachtthürme
von feudalem Aussehn mit schrägen Mauern und spitzigen Zinnen
ist über die Hänge ausgestreut. Ein eingefriedigter kaiserlicher
Wildpark reich! von der Sohle bis zum Kamm des Rückens: vom
Wilde sollen die Officiere der alliirten Armee, welche auch das
Jagdschloss auf der Höhe zerstörten, wenig übrig gelassen haben.
Der Tempel der Weissen Wolke liegt romantisch auf einem
Bergsporn zwischen zwei feuchten schattigen Schluchten; ein kühn
gewölbter Bogen führt hinüber. Man tritt in einen von Wohngebäuden
umschlossenen Hof, an den sich Gärten mit Tempelhallen
und Capellen reihen. Uralte Kiefern beschatten die breiten in fünf
gewaltigen Stockwerken übereinander geschichteten Terrassen, deren
höchste ein imposantes Denkmal trägt. Die endlose auf seine
Facade stossende Freitreppe bietet, an je d e r Terrasse in reiche P o rtale
mündend, eine grossartige Perspective. Das aus weisslichem
Kalkstein erbaute Denkmal gleicht eher einem indischen: auf breitem
vierseitigem Unterbau steht in der Mitte ein prächtiger Tempel mit