
130 Der Volkscharakter.
gewohnt gewesen sich regieren zu lassen, und hat wohl niemals
den Gedanken gefasst, an der Herrschaft Antheil zu nehmen; dass
solches Verlangen nicht Wurzel schlägt, hegt wohl theils in seiner
u r a lt e n Scheidung vom Adel, theils auch in dem behaglichen Zustande
, in dem es bei massiger Beschränkung lebt. Das Bedürfniss
nach Freiheit würde sowohl hei stärkerem Drucke als bei ungehemmter
Entwickelung rasch aufkeimen — aber die S io g u n ’s haben
es verstanden dfcm Volke ein ruhiges, friedliches Lehen zu bereiten,
und zugleich seiner inneren Entwickelung bestimmte Grenzen zu
setzen. Die Knechtschaft ist so uralt und so bequem, dass der
Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit nicht geboren
wird. Nach Heldentugenden würde man unter dem Volke vergebens
suchen, aber an Bürgertugenden ist es reich. Die Regierung übt
die strengste Aufsicht, und leidet keinen Uebergriff. Während man
nun glauben sollte, dass in Folge der unausgesetzten Beaufsichtigung
das Volk gedrückt und argwöhnisch wäre, findet man es im Gegen-
theil heiter, aufgeweckt und oifen. Kein Vergehen bleibt verborgen,
aber der Redliche hat nichts zu befürchten. Die Strenge der Strafen,
und die allgemeine Mitverantwortlichkeit machen die Tugend Z u nächst
zur nothwendigen Gewohnheit — das gute Gewissen erzeugt
einen heiteren Sinn, und auch das von der Obrigkeit anbefohlene
Beharren des Volkes bei seinen alten,,einfachen, mässigen Gewohnheiten
trägt wesentlich dazu bei, die Japaner zufrieden, lebensfroh
und frisch zu erhalten. Ihr Verkehr untereinander und vor Allem
das Familienleben ist so erfreulich, wie man es nur bei den g e b
ild e t e n europäischen Völkern findet. Sie zeichnen sich aus durch
Höflichkeit und Freundlichkeit gegen die Ihrigen sowohl als gegen
Fremde, durch ein anständiges gleichmässiges Benehmen, durch
Frohsinn, Herzlichkeit und gute Laune; schlechte Manieren, Rohheit
und Zänkereien bemerkt man selten. Die Frauen und Mädchen
aus dem Bürgerstande sind züchtig und unbefangen13 *), die Männer
begegnen ihnen zart und ehrerbietig; vor Allem aber ist die Behandlung
der Kinder auf das äusserste sorgsam und liebevoll. Der
Unterricht der Jugend im Lesen und Schreiben, in der vaterländischen
Geschichte und Moralphilosophie wird sehr eifrig betrieben,
131) Schon im siebzehnten Jahrhundert sagt Caron: »Der Kaufleute und Burger
Weiber sitzen im Haus dagegen, ihr Haus mit den Dienstmägden verpflegende; sie
werden aber anderst nicht als züchtig und mit Ehrerbietung von den Leuten angesprochen.
«
Japanische Bildung. Spuren des Christenthumes. 131
es giebt Bildungsanstalten der verschiedensten Grade. So schwer
und mühselig die mannigfachen Arten der japanischen Schrift zu
erlernen sind, so ist doch die Schreibekunst auch unter den niederen
Ständen ganz allgemein verbreitet. Das Lesen bildet eine Hauptbeschäftigung
der Japaner aller Classen in ihren Mussestunden;
Buchläden, wo nicht nur japanische und chinesische Schriften,
sondern auch Uebersetzungen europäischer Werke über Länder-und
Völkerkunde, Astronomie und fast alle Zweige der Naturwissenschaft,
über Medicin, Taktik, Waffenkunde u. s. w. zu haben sind,
finden sich in allen Strassen, und die Bücher sind so unglaublich
wohlfeil, dass man einen grossen Verbrauch voraussetzen muss.
Nur solchen Schriften, welche von der Geschichte und Verfassung
europäischer Länder handeln, ferner allen, welche das speeifisch
.japanische Wesen tunbilden und im Volke äussere oder innere Bedürfnisse
hätten erwecken können, die dem Lande und seiner nationalen
Gesittung fremd waren, besonders allen Werken religiösen
und philosophischen Inhalts versagte die Regierung während der
Zeit der Abschliessung den Eingang132).
Dass das Christenthum, nachdem es achtzig Jahre lang in
Japan geblüht, wenn auch nachher äusserlich mit Stumpf und Stiel
ausgerottet, bei den Japanern einen tiefen Eindruck hinterlassen,
dass die Aussaat ihnen selbst unbewusst in den Jahrhunderten der
Abschliessung fortgekeimt und im Verborgenen ihre Früchte getragen,
dass die Thätigkeit der Bekehrer einen bleibenden Einfluss
auf die japanische Gesittung geübt habe, ist kaum zu bezweifeln,
denn die innere Wirkung grösser Wahrheiten bleibt, wo sie einmal
Wurzel geschlagen haben, unvertilgbare Thatsache. Vielleicht
werden sich bei näherer Bekanntschaft die Spuren des Christenglaubens
in der japanischen Gesittung an deutlichen Merkmalen
erkennen lassen; im Allgemeinen glaubt man sie schon jetzt aus dem
Volkscharakter herausfühlen zu können, denn die Japaner haben
Tugenden und Anschauungen, die man sonst gewohnt ist als Folgen
c h r is tlic h e r Gesittung zu betrachten. Wer die Schriften der
Holländer und Anderer durchblättert, die mit den Japanern in nahe
Berührung gekommen sind, kann dort unzählige Beispiele treuer
132) Noch in neuester Zeit ist die Regierung in dieser Beziehung sehr streng
gewesen. So wurde gegen einen der japanischen Schüler des Herrn von Siebold
eine .Untersuchung eingeleitet, weil er eine chinesische Uebers.etzung des Alten
Testamentes besass.