
Buchstaben des Gesetzes und eigentliche Rechtsinterpretationen kennt
uncl begreift man nicbt; trotzdem soll die Praxis der Rechtspflege
in Folge der durch den laugen Frieden geläuterten Sitten und Anschauungen
sehr milde geworden sein. Die Folter, deren Anwendung
die alte Gesetzgebung in Criminalfällen bei jedem Leugnen
gebietet, wird jetzt nur gegen überführte Verbrecher gebraucht,
welche nicht gestehen wollen. Geringe Vergehen, die den alten
Gesetzen nach sehr hart bestraft werden müssten, lässt man schon
der allgemeinen Mitverantwortlichkeit wegen gern unbeachtet oder
bemüht sich, sie unter andere minder straffällige Benennungen zu
bringen. Wenn es unmöglich ist, einen Angeklagten zu überführen,
so soll der Richter nach Beweisen für seine Unschuld forschen,
um ihn vollständig zu rechtfertigen. -Wl Sehr streng und gradezu
barbarisch scheint noch heute die Praxis gegen die Lehnsfürsten
und gegen hochgestellte Beamte zu sein: sie werden nicht nur für
das verantwörtlich gemacht, was ihre Schuld oder Nachlässigkeit
verfehlt, sondern müssen oft für ganz unverschuldetes und unvermeidliches
Unglück, das ihre Verwaltung betroffen hat, die härtesten
Strafen dulden. Dies hängt wieder mit der ostasiatischen HB39H ■ H n i Anschauunog
von der Verantwortlichkeit der Herrschenden zusammen.
Die gewöhnlichen Strafen sind Hinrichtung, Verbannung,
Gefängniss. Die Todesstrafe steht schon auf Diebstähle von geringem
Belang und wird meist durch das Schwert vollzogen128),
schwere Verbrechen ahndet man mit Kreuzigung und anderen
martervollen Todesarten. Die Hinrichtung durch Henkershand ist
immer entehrend, nicht nur für den, an welchem sie vollzogen wird,
sondern für dessen ganze Familie; seine Nachkommen sind unfähig,
in seine durch Geburt ererbten Rechte einzutreten. Es ist daher
eine Gnade des S io g u n , wenn er Leuten von Stande, die das
Leben verwirkt haben, das H a r a k i r ü befiehlt: dann bleiben ihre
Verwandten und Nachkommen in Ehren. Meistens kommen in
solchen Fällen die Schuldigen der Strafe durch freiwillige Selbst-
entleibung zuvor, wodurch ihr Vergehen ebenfalls gesühnt wird.
Das Volk scheint keinen Antheil an dieser Wohlthat zu haben; die
Leichname von Verbrechern der niederen Stände, die sich den Tod
gegeben, werden häufig in die Hände des Henkers geliefert, und
eingesalzen noch an das Kreuz geschlagen.
12s) Früher wurde jede Lüge vor der Obrigkeit mit dem Tode bestraft.
Die zur Verbannung verurtheilten schickt man entweder auf
entlegene Bergfesten, in die Kupferbergwerke oder nach einsamen
Felseninseln129). Diese Strafe scheint nicht entehrend zu sein,
ebensowenig die des Hausgefängnisses, welche auch gegen Leute
der höchsten Stände und gewöhnlich auf 50 bis 100 Tage verhängt
wird. Das Haus des Inculpaten wird, nachdem er sich und, die
Seinen hinreichend mit Lebensmitteln versehen hat, auf allen Seiten
mit Brettern vernagelt; der Schuldige darf sich während der Strafzeit
weder Bart noch Haare scheeren und tritt in den von den
Japanern so verabscheuten Zustand der Unreinheit. — Die öffentlichen
Gefängnisse sollen meist reinlich und luftig sein; es giebt
aber eine Art unterirdischer Kerker für gemeine Verbrecher, welche
Höllen genannt werden und ein wahrer Aufenthalt des Grauens
sein müssen. Dort werden die Missethäter bei vollständiger Aus-
schliessung von Licht und frischer Luft in grösser Anzahl zusammen
in ein enges Behältniss gesperrt, in das man nur einmal täglich
die schlechte Nahrung durch eine kleine Oeffhung hineinreicht.
Es ist den Verwandten des Verbrechers erlaubt, ihm bessere Lebensmittel
zu bringen, aber nur unter der Bedingung, dass alle seine
Mitgefangenen daran Theil nehmen.
In allen diesen Strafen giebt es vielfache Modificationen und
Abstufungen ¿v- namentlich in Bezug auf die Mitleidenschaft der Verwandten,
— und eine ganz bestimmte Gradation. Das Strafmaass
wird um eine Stufe gemildert, wenn Jemand sich freiwillig angiebt.
Leichtere Vergehungen der Beamten ahndet die Regierung mit Versetzung,
Degradirung, mit ganzem oder theilweisem Vermögensverlust
13 °). ImUebrigen halten die Japaner Geldstrafen für ungerecht
und unzulässig, weil sie auf dem Armen so ungleich schwerer lasten
als auf dem Reichen.
Ueber die Organisation des Priesterthumes, seine Rechte
und seine Stellung weiss man wenig Genaues. Nominell stehen die
129\ Oitroii, Kämpfer und Andere berichten, dass höhere Staatsverbrecher nach
der südlich von N ippon im Stillen Ocean gelegenen Insel F atsisio verbannt werden,
■ wo sie sich mit dem Weben ausnehmend kunstreicher und kostbarer Seidenstoffe
beschäftigen. Die Küsten dieser Insel sollen ganz hafenlos und so unzugänglich
sein, dass die dort ajikommenden Dschunken vermittelst starker Taue auf das hohe
Felsenufer gewunden werden müssen, da man auf andere Weise nicht landen kann.
ISO) Vormals wurde das Vermögen aller Verbrecher eingezogen, und floss in
eine Kasse, die zum Tempel-, Brücken- und Strassenbau diente. S. Caron.