
E s ist unmöglich das Wesen einer Nation zu erfassen, olme ihre
Religion, Geschichte und Sprache, und die leitenden Ideen ihrer
Existenz zu kennen; daher erscheinen Völker, deren Cultur auf verschiedenen
Grundlagen beruht, einander hei der ersten Berührung
meist sonderbar und unbegreiflich. Die Gegensätze der äusseren
Lebensgewohnheiten treten scharf hervor; was dem einen ganz natürlich,
weil seit Jahrhunderten eingeleht und anerzögen ist, erscheint
dem ändern widerstrebend und abgeschmackt. So geht es uns mit
den meisten ostasiatischen Völkern und vor allen mit den Japanern.
Ihre ganze Gesittung ist von der unseren so grundverschieden,
dass der Europäer sich dort auf ein anderes Gestirn versetzt
glaubt. Japan hinterlässt dem flüchtig Reisenden den Eindruck eines
bunten Bilderbuches voll wunderlicher Scenen ohne Text: daher denn
alle die abentheuerlichen Berichte, die nur deshalb so mährchen-
haft und unbegreiflich klingen, weil uns der Zusammenhang der
Erscheinungen und der Schlüssel zu ihrem Verständniss fehlt. Aber
selbst begabte Männer, die jahrelang in Japan gelebt und in genauen
Beziehungen zu den Eingeborenen gestanden haben, bekennen in
der Beurtheilung der Zustände wenig vorgeschritten zu- sein. Bei
tieferem Eindringen knüpfen sich Räthsel auf Räthsel, und wenige
lösen sich; überall stösst man auf unerklärliche Widersprüche. Der
Grund dieser Unklarheit hegt in unserer unvollkommenen Kenntniss
der japanischen Sprache und Schriften und der sittlichen und religiösen
Fundamente ihrer Cultur, die Schwierigkeit Ö 7 o sie zu bemeistern
in der Verschlossenheit der Japaner.
Das japanische Volk hatte sich von Anfang an, wenn auch mit
Zuziehung fremder Elemente, selbstständig entwickelt und zu einer
bedeutenden Stufe der Gesittung aufgeschwungen: da erschienen
im sechszehnten Jahrhundert die Europäer und brachten Ideen und