hinteren Mitteldarmanlage ist öffenbar erst innerhalb der Gruppe der Insekten zustande gekommen,
sie fehlt, soweit unsere Erfahrungen reichen, allen übrigen Arthropoden und sie lässt
sich daher auch nicht mit der typischen Darmbildung anderer Tiere ohne weiteres vergleichen.
Mit der Auffassung, dass in der Entstehung der beiden Mitteldarmanlagen eine cäno-
genetische Erscheinung vorliegt, scheine ich mich in erfreulicher Übereinstimmung mit Heider1)
zii befinden. Letzterer hat wenigstens die Ansicht ausgesprochen, dass es sich bei dem von
mir an Orthopteren zuerst genau nachgewiesenen ektodermalen Ursprung des Mitteldarms um
,,eine cänogenetische Modifikation des bei den übrigen Insekten zu beobachtenden Typus
handelt, welche durch einen Anachronismus im Auttreten der einzelnen Anlagen zu erklären ist.“
Dieser Meinung kann ich aber freilich nur in soweit beipflichten, als eben auch meiner
Überzeugung nach die Bildung der zum Ersatz des Entoderms dienenden beiden Mitteldarmanlagen
im Vergleich zur Entwicklung des Scolopenders und der Thysanuren als ein cäno-
genetischer Vorgang anzusehen ist. Dagegen ist es doch wohl nicht richtig, das Verhalten
der Orthopteren gewissermassen als eine Ausnahmeerscheinung im Vergleich zum Entwicklungstypus
der „übrigen Insekten“ hinstellen zu wollen. Nachdem von verschiedener Seite
der ektodermale Ursprung der Mitteldarmanlagen bei Vertretern von Dermapteren, Coleopteren,
Lepidopteren nachgewiesen werden konnte, und er auch für Dipteren bereits beschrieben ist,
meine Folgerungen im Prinzip überdies auch für Hymenopteren inzwischen anerkannt wurden,
wird man nun wohl nicht mehr daran zweifeln können, dass die von mir bei Orthopteren
beschriebene Art der Darmbildung mit verhältnismässig nur unwesentlichen Abweichungen
gerade für die überwiegende Mehrzahl der Insekten eigentümlich ist. Es dürften meiner
Ansicht nach sogar die bisherigen Beobachtungen sämtlich dafür sprechen, dass wenigstens
bei den holometabolen Insekten die Mitteldarmanlagen erst nach der Entodermbildung (Gastru-
latiori) und zwar bipolar, sei es erst spät aus dem Ektoderm des Stomatodäums und Procto-
däums, sei es bereits etwas früher aus dem Ektoderm am vordersten und hintersten Ende des
Embryonalkörpers sich entwickeln.
Ich habe oben pag. 199—208 die physiologischen Gründe dargelegt, die zu einer derartigen
noch in weiter fortgeschrittenen Entwicklungsstadien stattfindenden Ablösung von
resorbierenden Zellen mit Notwendigkeit führen mussten. Sie bestehen eben darin, dass das
gesamte primäre Entoderm, das mit dem Entoderm von niederen Tieren verglichen werden
kann, bereits für die Resorption des Eidotters aufgebraucht wurde. Andere embryonale somatische
Zellen mussten deshalb zum Ersatz herangezogen werden und lieferten dann noch
nach der Gastrulation die definitiven Mitteldarmänlagen.
Die Bildung solcher Mitteldarmanlagen im Sinne Heiders statt dessen nun aber durch einen Anachronismus
in der Entwicklung des Entoderms bei den Insekten erklären zu wollen, um damit
dann die Keimblätterlehre verteidigen zu können, scheint mir doch ein etwas bedenkliches
Prinzip zu sein. Nimmt man an, dass selbst noch nach der Gastrulation also der Keimblätterbildung
sich auch nachträglich noch Keimblätter bilden können, so gerät thatsächlich
die ganze Definition der Keimblätter ins Wanken, denn sicherlich können wir dann doch
wohl annehmen, dass solche Anachronismen bei der Keimblätterbildung nicht nur während
der Entstehung des Entoderms sondern auch anderweitig sich öfters ereignen. Nichts
würde also mehr im Wege stehen, beispielsweise etwa die Speicheldrüsen oder die Tracheen
1) Verhandl. Deutsch. Zoolog. Gesellschaft 1900.
der Insekten von jetzt an vom Mesoderm herzuleiten, das sich nur in etwas anachronistischer
Weise später als das übrige Mesoderm absondert. Vielleicht würde daraufhin dann sogar
noch einmal eine Homologisierung dieser Teile mit Nephridien versucht werden! Da ferner
bekanntlich die Vasa Malpighi der Arachnoiden aus dem Entoderm hervorgehen, so würde sich
nunmehr unter der in Rede stehenden Voraussetzung auch mit gleich gutem Grunde behaupten
lassen, dass die bekanntlich bald etwas früher, bald etwas später entstehenden Malpighischen
Gefässe der Myriopoden und Insekten eigentlich auch nur aus Entoderm sich entwickeln, das
während der Gastrulation zunächst latent geblieben ist, und dessen Auftreten nur anachronistisch
in der Regel in die späteren Entwicklungsstadien verlegt worden sei. Auf diesem bequemen Wege
lassen sich aber selbstverständlich eben schliesslich alle Organe von jedem beliebigen Keimblatte
herleiten. Nieman d kann dann mehr sagen, wi eviel En to d e rm und Mesoderm
se lbs t nach der G a s t r u l a t io n und Me so de rmbi ldung im Ek to d e rm e i g e n t lich
in l a t e n t e r W e i s e noch v e r b o rg e n s t e c k t , und es fü hr t h i emi td i eAn n a hme
von An a ch ro n i sme n zu eine r Ana rch i e d e r Ke imb l ä t t e r be gr i f f e .
Es ist selbstverständlich, dass ich hierbei nicht die geringen zeitlichen Schwankungen
in dem Auftreten einzelner Zellelemente dieses oder jenes Keimblatts im Auge habe, sondern
dass ich nur gegen die Anwendung des Namens „Keimblatt“ auf selbständige bisweilen sogar
erst in weit fortgeschrittenen Stadien auftretende Organanlagen Einspruch erheben will, weil
hiermit eben allen beliebigen Interpretationen Thür und Thor geöffnet sein würde1).
Selbst wenn, wie ich schon oben andeutete, späterhin noch einmal Fälle aufgefunden
werden sollten, in denen bei den Insekten zwischen den bipolaren Mitteldarmanlagen und dem
Dottei zellenentodei m kein histologischer Gegensatz und auch keine lokale Trennung existierte
so wäre damit nur erwiesen, dass in einem solchen Falle die Darmanlagen eben als entoderm
al bezeichnet werden könnten. Derartige Beobachtungen sind jedoch bisher noch niemals
gemacht worden, sie würden aber auch keineswegs dazu berechtigen, die bei zahlreichen
Insekten ganz bestimmt erst aus dem ektodermalen Stomatodäum und Proctodäum hervorgehenden
Mitteldarmanlagen ebenfalls als ein entodermales latentes Keimblatt oder als Teile
eines solchen hinzustellen. E s is t di es d e swegen nicht möglich, weil wir j a noch
ga r ni cht e inma l wi s s en, ob u n d in wi ewe i t es d e n n ü b e r h a u p t spe z i f i s che
en to d e rma l e Eig e n s c h a f t e n gieb t , die sich imme r nur auf ganz be s timmt e
Emb ry o n a l zel l en ü b e r t r a g e n l assen.
Die Existenz derartiger unverändert bleibender entodermaler Potenzen als solcher ist in
Wirklichkeit noch in keiner Weise erwiesen. Es ist wohl möglich, oder vielmehr sogar sehr
wahrscheinlich, dass die Potenzen der Embryonalzellen durchaus nicht immer ganz konstant von
Generation zu Generation vererbt werden, sondern dass sie im Laufe der Zeit gewissen Veränderungen
und Modifikationen ausgesetzt sind. Nur so ist es jedenfalls verständlich zu finden,
dass somatische Zellen, die bei den Stammformen . noch gleichwertig waren, allmählich verschiedene
Funktionen übernehmen und zur Ausbildung neuer und andersartiger Organe Veranlassung
geben können, wie z. B. die Entstehung der Tracheen aus Hautzellen zeigt. Man
wird also natürlich auch annehmen dürfen, dass die Funktionen der Resorption ebenfalls'von
beliebigen embryonalen somatischen Zellen erforderlichenfalls übernommen werden können.
1) Ich verweise ferner auf Samassa (Biol. Centralblatt, Bd. 18, 1898, pag. 665), der den Versuch, meine Befunde an
Insekten durch die Einführung des Begriffs eines „latenten Entoderms“ zu entkräften, ebenfalls nicht für berechtigt hält.