wie nennenswerten Streckung der Urdarmanlage über die Längsachse des Keims ist in keinem
Falle irgend etwas zu bemerken. Wenn Escherich meint, in den spitzigen Ausläufern der
einander gegenüberliegenden beiden Mitteldarmanlagen bei den Fliegen einen Hinweis auf eine
solche Zerreissung erblicken zu können, so muss ich dies für irrtümlich erklären, denn eine
derartige Gestalt wird offenbar lediglich durch die Wachstumsrichtungen der Mitteldarmzellen
nach hinten bezw. nach vorn bedingt.
Die Zerreissungshypothese für den Urdarm der Insekten ist, da die vollkommen äna-,
logen Entwicklungsvorgänge bei allen anderen Arthropoden nichts ähnliches aufzuweisen haben,
und da sie also ohne Beispiel überhaupt ganz unbewiesen in der Luft schwebt, auch schlechthin
unannehmbar. Dass eine solche Hypothese aber durchaus notwendig ist, um die Gastrulation
der Musciden im Escherichschen Sinne und im Sinne einiger älterer Autoren überhaupt erklärbar
zu machen, betrachte ich als ein gewichtiges Argument, welches meiner Meinung nach
sehr erheblich gegen die Ansichten dieser Forscher spricht. Je komplizierter eine Erklärung
ist, je mehr andere Hilfshypothesen sie zu ihrer Unterstützung gebraucht, desto bedenklicher
sieht es auch in der Regel mit ihrer Daseinsberechtigung aus, denn nicht mit unbewiesenen
und unbeweisbaren sekundären Hypothesen, sondern nur durch den Hinweis auf analoge that-
sächliche Fälle können wir unseren Erklärungen Halt verleihen. Letztere Voraussetzung trifft
für die „Zerreissungs-Hypothese“ nicht zu.
Hiermit liegt es mir natürlich vollkommen fern, gegen den geistvollen Urheber der betreffenden
Hypothese, Alexander Kowalewsky, irgendwie einen .Vorwurf erheben zu wollen.
In früherer Zeit, als diese Hypothese aufgestellt wurde, konnte eine derartige Deutung,
die gewissermassen überhaupt als einer der ersten tastenden Versuche zu betrachten ist, Klarheit
in das schwierige Gebiet der Insektenembryologie zu bringen, eben auch noch ganz
wohl als möglich gelten. Gegenwärtig liegt die Sache indessen anders. Unsere Kenntnisse
von der Insektenentwicklung haben sich mittlerweile erheblich erweitert, und vor allem dürfte
sich auch inzwischen die Überzeugung Bahn gebrochen haben, dass es durchaus verfehlt ist,
unter Zuhilfenahme verschiedener Hilfshypothesen ohne weiteres theoretische Schlussfolgerungen
aufzubauen.
Wenn die Embryologie ihren Wert zur Aufklärung der Stammesgeschichte der Tiere
beizutragen, weiterhin bewahren soll, so ist es unumgänglich notwendig, nicht eine einzelne,
an irgend einer Tierform gewonnene Beobachtung als solche zu Spekulationen zu benutzen,
sondern die vergleichende Methode anzuwenden, wie dies ja auch eigentlich in der Regel
wohl üblich ist und namentlich in der vergleichenden Anatomie schon längst geschieht.
4. Die Keimblätterbildung der Dipteren im Vergleich zu derjenigen anderer Arthropoden.
Ein Vergleich d^r embryonalen Vorgänge bei den Musciden mit denjenigen anderer Insekten
wird in erster Linie darauf ausgehen müssen, der Bedeutung der Dotterzellen bei der
Keimblätterbildung gerecht zu werden.
Leider sind wir über diesen Punkt erst ungenügend unterrichtet. Da Escherich: äM diese
Verhältnisse nicht eingegangen ist, so ist es notwendig, auf ältere Untersuchungen von Blochmann1)
zurückzugreifen, sowie einige kurze Mitteilungen von Korschelt2) zu verwerten. Nament-
1) F. Bloclimann, Über die Richtungskörper bei Insekteneiern. Morphol. Jahrbuch. Bd- 12, 1887,
2) E. Korschelt- Verliandl. Deutsch. Zool. Gesellschaft 1900, pag. 132.
lieh aus letzteren geht hervor, dass die Bildung der Dotterzellen bèi Calliphora durch Einwanderung
von einer am hinteren Eipole gelegenen Blastodermverdickung von statten geht.
In der vorliegenden Abhandlung hoffe ich nun den Beweis erbracht zu haben (pag. 18
bis 30), dass die Dotterzellen der einzigste Bestandteil sind, der mit Sicherheit auf das Ento-
derm niedriger organisierter Formen d. h. auf das Entoderm von Thysanuren und Myriopoden
bezogen werden kann.
Es muss infolge dessen auch bei den Musciden die Immigration der Dotterzellen (oder
die Umwachsung der Dotterzellen durch das Blastoderm) als Gastrulation aufgefasst werden,
so dass bei diesen Tieren die Entodermbildung, soweit sich dies wenigstens zur Zeit übersehen,
lässt, wohl hauptsächlich durch polare Einwanderung zustande kommt.
D e r h i n t e r e E ip o l d e s M u s c id e n e i e s , an d em a u c h d ie P o l z e l l e n (die
m u tm a s s l i c h e n G e n ita lz e lle n ) - l i e g e n , e n t s p r i c h t m ith in d em v e g e t a t i v e n
P o l e d e s S c o l o p e n d e r e i e s , u n d d i e s e S t e ll e , an der.febei d e n M u s c id e n die
Im m ig r a tio n de s E n t o d e rm s sich w ah r sch e in l i c h t h a t s
ä c h lic h v o l lz i e h t , h a t m an a ls o a u c h m it dem B la s to -
p o r u s a n d e r e r T i e r e zu v e r g l e i c h e n 1).
Das Archenteron wird gerade wie bei Scolopendra und zahlreichen
anderen Arthropoden hierbei von der ursprünglich als
zellig aufzufassenden Dottermasse (dem Komplex der Dotterzellen
samt Nahrungsdotter) ersetzt.
Ist die Bildung der Dotterzellen beendet, so sind demnach
zwei differente Zellenlagen vorhanden, einmal das äussere Ektoderm
(das sog. Blastoderm) und zweitens die im Innern gelegenen
Entodermzellen oder Dotterzellen (Fig. XXXXI).
Ich mache darauf aufmerksam, dass allein diese Erklärung
ohne Zuhülfenahme irgendwelcher Hypothesen und anderweitiger
F ig . X X X X I. S ch em a d e r G astru latio n ' ■§■ . . . r j - -rr -sW B H jW H B B H W «WS Insekteneä. d'o ■Eidotter; Theorien die Gastrulation -Ion, Musca auf die Keimblatterbildung
ek = Ektoderm (Blastoderm), en = aller anderer Insekten sowie diejenige von Myriopoden und an-
Entoderin||otterzeUen). Arthrop@;fcn zu beziehen gestattet.
Von dieser SBhtwicklungsphase äusgfMlMfangen nun die Untersuchungen .von Escherich
an. Letzterer hat ab®- das betreffende Stadium nicht als Sastrulastedium: erkannt,, sondern
ist, da er eben in der Voraussetzung befangen war, das Blastillastadium vor sich zu haben,
zu den oben erörterten Konsequenzen gekommen. Der IrrtumoEscherichs besteht darin,
dass er das Ektoderm als undifferenziertes Blastoderm betrachtet, und weiter, dass er das
Entoderm mit der Furchungshöhle identifiziere, wie w enÄ en s aus der gesamten Darstellung
hervorgeht, ohne auf die im Dotter befindlichen Zellen Rücksicht-zu .nehmen.
; b e r nächste'Schritt in deh:'Entwicklung muss-zur Anlage des MesM.erms führen. Wir
wissen, dass, letzteres bei den Arthropoden vom Ektoderm1 gebildet wird, wie dies: bereits für
■ zahlreiche Insekten, Myriopoden, Arachnoiden, Gigantostraken und Crustaeccn nachgewiesen
-ist. Wir wissen jetzt ferner,'das® das M e s o d e rm .ursprünglich in Form zweier lateraler von
1) Die Riqhtüngskörperchelv bilden .sich bekanntlich bei den Fliegen an der konkaven Dorsalfiäche des Eies. Der
Ort der Richtuogskörperbiktang ist indessen, wie aus neueren Untersuchungen hervorgeht, für (^¡Beurteilung der Achsenverhältnisse
nicht von Bedeutung und braucht daher, bei der hier erörterten .Frage-niebt in Betracht gezogen zu werden.