Unter den genannten Teilen ist wohl ohne Zweifel das Archicerebrum das ursprünglichste
Element im gesamten Gehirn, es stellt gewissermassen den Grundstein des ganzen Gebäudes
dar, an welchen sich erst später die übrigen Bestandteile angeschlossen haben. Das Archicerebrum
wird am frühesten angelegt, es entwickelt sich in der einfachsten Weise durch
Immigration von Zellen und ist ab origine unpaar. Namentlich durch letzteres Merkmal unterscheidet
es sich scharf von sämtlichen übrigen Hirnteilen, welche ausnahmslos paarig angelegt
werden. Da das Archicerebrum in der Region des späteren Clypeus, mithin in dem unmittelbar
über der Mundöffnung gelegenen, präoralen Hautlappen entsteht, so dürfte vom morphologischen
Standpunkte aus wohl kaum ein Bedenken vorliegen, das Archicerebrum mit dem
im präoralen Kopflappen (Prostomium) von Anneliden befindlichen primären Oberschlundganglion
zu vergleichen, bezw. es auf das Scheitelganglion wurmähnlicher Tiere zurückzuführen.
Ich halte es jedenfalls für sehr wahrscheinlich, dass in diesem Teile thatsächlich das eigentliche
Urhirn der Arthropoden, mithin das primäre Centrum des Nervensystems vorliegt.
Es knüpft sich hieran wohl naturgemäss die Frage an, in wie weit das Archicerebrum
den übrigen Teilen des Nervensystems noch als selbständiges Zentrum gegenübertritt. Bei
den Anneliden pflegt sich bekanntlich noch eine räumliche Sonderung in den Anlagen des
Oberschlundganglions und des Bauchmarks zu zeigen. Die Entwicklungsgeschichte des Scolo-
penders scheint hierauf nur noch in soweit hinzudeuten, als das Archicerebrum etwas, allerdings
nur ein wenig, früher als die übrigen Teile des Nervensystems entsteht, dagegen konnte
ich eine eigentliche räumliche Trennung zwischen dem Archicerebrum und den angrenzenden
Hirnabschnitten nicht mehr nachweisen.
In seiner ursprünglichen Form bleibt das Archicerebrum selbst bei der Embryonalanlage
von Scolopendra nur kurze Zeit erhalten. Es erfährt bald eine Vergrösserung durch Ganglienmassen,
die von den beiden medialen Hirngruben ausgehen und als dorsale Rindenplatte die
proximal an der nach dem Körper zu gelegenen Seite des Archicerebrums entstandenen Fasermassen
bedecken. Die Zellen dieser dorsalen Rindenplatte unterscheiden sich längere Zeit
hindurch noch deutlich durch ihre eigenartige Gruppierung und durch ihre etwas dunklere
Färbung von den Ganglienzellen des Archicerebrums.
Die Gründe, welche zu der hiermit erzielten Verstärkufig und Vergrösserung des ursprünglich
wohl ein einfaches Nervencentrum darstellenden Archicerebrums Veranlassung gegeben
haben, entziehen sich der Kenntnis. Ich habe wenigstens bei Scolopendra in dieser
Hinsicht keine Anhaltspunkte finden können. Dagegen ist es vielleicht gestattet, eine Vermutung
über die Ursachen zu äussern, welche zu der sehr viel bedeutenderen Vermehrung
der Hirnsubstanz durch die beiden lateral mit dem Archicerebrum vereinigten Frontallappen
geführt haben mögen.
Mit der Entwicklung der Lobi frontales steht, wie ich oben dargelegt habe in inniger
Verbindung die Entstehung einer eigentümlichen Gewebspartie, des sog. Tömösvaryschen
Organs. Wenn auch bei Scolopendra selbst dieses unter der Körperhaut befindliche Gebilde
den Eindruck eines nicht mehr auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung stehenden Organs
D a s zw eite H irn segm en t (D eu terocö rö bron) d e u te t e r (1893) d a h e r als segm en t p röoeso phagien. In d e r A rb e it v o n
W h e e le r (1893 p. 100) fin det sic h d ageg en sch o n d ie A n g ab e en th alten , d a ss b ei.X ip h id ium d ie d e u tero cereb ralen und
trito c e re b ra le n G an g lien ,,strictly homodynamous with the ganglia o f the nerve cord“ seien.
macht, so sind doch die Tömösvaryschen Organe anderer Myriopoden z. B. der Glomeriden,
der Lithobiiden u. a. noch typische periphere Sinnesorgane.
Stets werden die Tömösvaryschen Organe, wie bereits die Untersuchungen von Saint
Remy (1889) gezeigt haben durch einen vom lateralen Rande des Lobns frontalis ausgehenden
Nerv versorgt. Bei Scolopendra hat sich sogar gezeigt, dass dieser Nerv nur durch eine
Einschnürung zwischen Lobus frontalis und Tömösvaryschem Organ zu Stande kommt, indem
die genannten Teile von Anfang an Zusammenhängen.
Diese unverkennbare Beziehung zwischen Frontallappen und Tömösvaryschen Organen
legt jedenfalls die Vermutung nahe, dass die Ausbildung der letzteren auf die Entwicklung
der ersteren nicht ohne Einfluss geblieben ist, sondern dieselbe begünstigt oder sie ursprünglich
sogar vielleicht veranlasst haben mag. Die weite Verbreitung der Tömösvaryschen Organe
oder ihrer Rudimente bei den verschiedenen Myriopoden scheint wenigstens darauf hinzudeuten,
dass es sich bei ihnen um Sinnesapparate handelt, die ehemals eine wichtige Bedeutung
besessen haben. Es ist daher immerhin wohl verständlich, dass die zur Innervierung dieser
Organe erforderlichen Ganglionanschwellungen sich dann auch noch nach der bereits erfolgten
teilweisen oder gänzlichen Verkümmerung dieser Organe in Gestalt der Lobi frontales des
Vorderhirns erhalten haben und mit der Übernahme anderer Funktionen dann zu einem dauernden
Bestandteil des Gehirns geworden sind.
Die Entwicklung der lateral von den Frontallappen befindlichen kleinen Lobi optici dürfte
in ähnlicher Weise mit der Ausbildung der Sehorgane in Verbindung zu bringen sein. Entsprechend
der ziemlich unbedeutenden Funktion der Ocellen bleiben auch die Lobi optici bei
den Myriopoden verhältnismässig unansehnlich und klein.
Meiner Ansicht nach ist also die sekundäre Vergrösserung des Gehirns bei den Arthropoden
oder den Vorfahren derselben in erster Linie durch die im präoralen Teil des Kopfes
zur Entwicklung gekommenen Sinnesorgane bedingt worden. Es würde zwecklos sein, dieser
Hypothese hier Ausdruck zu verleihen, wenn nicht bei den Myriopoden allem Anschein nach
in dieser Hinsicht thatsächlich bestimmte Anhaltspunkte vorhanden wären. Die oben angeführten
Gründe gestatten wohl mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits die Tömösvaryschen
Organe und die Ocellen als diejenigen Organe namhaft zu machen, welche zur Ausbildung zweier
wichtiger Abschnitte des Vorderhirns, nämlich zur Bildung der Lobi frontales und der Lobi
optici Veranlassung gegeben oder dieselbe doch wenigstens begünstigt und befördert haben.
Mit der Entwicklung der genannten Teile ist schon der präorale Abschnitt des Nervensystems
zum Gehirn (Syncerebrum) d.h. zum dominierenden Abschnitt unter allen Nerven-
centren gestempelt, doch wäre die Annahme nicht richtig, dass schon allein in Folge der
Ausbildung eines Syncerebrums die Arthropoden sich prinzipiell von den Anneliden unterscheiden.
Präorale am Prostomium gelegene Sinnesorgane kommen auch bei Würmern vor
und es ist selbstverständlich, dass sie auch bei diesen schon eine Vergrösserung und Erweiterung
des primären Ganglions supraoesophageum zur Folge hatten, welches damit gleichfalls
das Centralorgan des Nervensystems darstellt.
Es würde zu weit führen, wenn ich hier die Litteratur über den Bau des Annelidengehirns
eingehender berücksichtigen wollte, um so mehr, als die abweichenden Angaben der
Autoren womöglich auch noch auf Grund eigener Untersuchungen erst kritisch gesichtet werden
müssten. Ich beschränke mich daher nur darauf, die Resultate von Racovitza (1896) über