behren. Die von Zograf (1892) angeregte Frage nach dem Vorhandensein segmentaler Sinnes-
organe an der Ventralseite von Arthropodenembryonen scheint mir hiermit zugleich auch ihre
Erledigung in negativem Sinne gefunden zu haben.
Man wird meiner Auffassung nach den „Ventralorganen“ eine besondere phylogenetische
Bedeutung nicht mehr zusprechen können, sondern sie lediglich als Gebilde zu betrachten haben,
welche mit der ontogenetischen Entwicklung des Nervensystems in ursächlichem Zusammenhänge
stehen, und die dementsprechend entweder überhaupt nur zur Embryonalzeit (Scolo-
pendra) oder doch vorzugsweise beim Embryo (Peripatus) entwickelt sind. Die Ventralorgane
als solche sind eben überhaupt gar nichts weiter als diejenigen naturgemäss etwas verdickten
Stellen der Haut, von denen aus die Bildung der Mittelstrangzellen von statten geht.
Im Hinblick auf diese Ergebnisse ist es vielleicht auch zulässig, dei* Frage nach der ursprünglichen
Bedeutung des Mittelstrangs näher zu treten, welcher bekanntlich bei der Zusammensetzung
des Bauchmarks bei allen Arthropoden eine Rolle spielt. Der Mittelstrang scheint
gewissermassen eine Art Hülfsmittel darzustellen, dessen Aufgabe darin bestand, eine mediane
Vereinigung der beiden primär getrennten Neuralstränge anzubahnen. Man w ird s ic h v ie ll
e i c h t v o r z u s te lle n h a b e n , dass u r s p r ü n g lic h ä h n lic h wie b e im P e r ip a tu s zwei
l a t e r a l e N e rv e n z ü g e v o rh a n d e n w a re n , die zw a r d e r V e n t r a l f lä c h e d e s T ie r s
g e n ä h e r t, a b e r d o c h w e it g e t r e n n t von e in a n d e r v e r lie f e n . In d em a ls d a n n im
A n s c h lu s s an d ie s e p a a r ig e n N e rv e n s tr ä n g e au ch in de r m e d ia n e n zw is c h e n ihnen
g e le g e n e n H a u tp a r t i e d ie A b lö su n g n e u r o g e n e r E lem e n te (S tü tz z e lle n u n d
N e rv e n z e lle n ) in im m e r s t ä r k e r em Masse e r fo lg te , kam es s c h l ie s s li c h zu e in e r
m e d ia n e n V e r e in ig u n g d e r b e id e n l a t e r a l e n N e r v e n s tr ä n g e , m ith in z u r E n tw
ic k lu n g d e s u n p a a r e n B a u c hm a rk s .
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der oben erwähnte Dorsalnerv nur mit denjenigen
Nervenelementen zu vergleichen ist, die an der Ventralseite in der medianen Region zwischen den
Neuralsträngen (Mittelstrangregion) gelegen sind und dort wohl ursprünglich einen ebenso feinen
Ventralnerven bildeten. Der Dorsalnerv ist also durchaus nicht etwa das Gegenstück des gesamten
Bauchmarks, denn in letzterem kann ich bei den Arthropoden nur ein Verschmelzungsprodukt
zwischen heterogenen Bestandteilen erblicken, als dessen Komponenten zwei starke
Lateralnerven (Neuralstränge) nebst dem primär paarigen, in erster Linie zur Vergrösserung
der Neuralstränge und zur Bildung von Stützsubstanz dienenden, Mittelstrang anzusehen sind.
Der in einigen Fällen bereits erbrachte Nachweis von dem Vorhandensein von Nervenelementen
zwischen den Neuralsträngen erlaubt vielleicht ferner den Schluss, dass an der Herstellung
des Bauchmarks sich ursprünglich auch noch ein medianer Ventralnerv beteiligt hat,
der seinerseits mit dem Dorsalnerv verglichen werden kann.
Dass es sich bei den Seitensträngen des Bauchmarks thatsächlich um primär laterale (ventro-
laterale) Organe handelt, spricht sich meiner Meinung nach noch mit Deutlichkeit in der ursprünglich
lateralen Lagerung derselben im Körper des Scolopenderembryos aus. Nimmt man nun an,
dass die Seitenstränge des Bauchmarks erst sekundär von der Lateralseite an die Ventralfläche des
Körpers gelangt sind, so dürfte es ferner gewiss recht nahe liegen, sie mit den lateralen Longitudinalnerven
zu vergleichen, welche bekanntlich bei niederen Tieren (Plathelminthen, Nemertinen u. a.)
sehr verbreitet sind. Ein weiteres Eingehen auf diese Hypothese,für welche natürlich aber auch durch
weitere Untersuchungen noch erst mehr Boden geschaffen werden müsste, ist hier nicht am Platze.
4. Zur Phylogenie des Gehirns bei Myriopoden und Insekten.
Die Entwicklungsgeschichte hat ergeben, dass das Gehirn von Scolopendra ein recht
kompliziert gebautes Organ ist. Die Zusammensetzung desselben aus einer ganzen Anzahl
verschiedener Ganglienpaare und Nervencentren hat sich jedenfalls viel verwickelter gezeigt,
als man nach den bisherigen anatomischen Zergliederungen anzunehmen pflegte.
Nach den umfassenden vergleichend anatomischen Untersuchungen, die in erster Linie
den französischen Forschern Saint Remy (1889) und Viallanes (1893) zu verdanken sind, kann
man am Gehirn sowohl der Insekten wie der Myriopoden drei aufeinander folgende Abschnitte
unterscheiden: das Protocerebrum, Deuterocerebrum und Tritocerebrum.
Embryologische Untersuchungen von Viallanes (1891), Wheeler (1893) und mir selbst
(1895a) an verschiedenen Insekten ausgeführt, haben diese Auffassung bestätigt und weiterhin
gezeigt, dass das Protocerebrum (Protencephalum) samt den zugehörigen Lobi optici dem präoralen
Teile des Kopfs (Acron) zugehört, während Deuterocerebrum (Deuterencephalum) und
Tritocerebrum (Tritencephalum) weiter nichts sind, als die mit dem Protocerebrum sekundär
vereinigten Bauchganglien zweier postoraler Rumpfsegmente, nämlich des Antennensegments
und des Intercalarsegments1).
Die embryologischen Befunde an Scolopendra haben nun zu dem unerwarteten Ergebnis
geführt, dass zwischen dem präoralen Abschnitt und dem Antennensegment noch ein weiteres,
ebenfalls noch mit Ganglionanlagen versehenes (erstes) postorales Segment, das Präantennensegment,
sich vorfindet. Abgesehen von der Beteiligung des Ganglions dieses bisher unbekannt
gebliebenen Segments am Aufbau des Vorderhirns, zeigt sich ferner bei Scolopendra
mit grösser Deutlichkeit, dass letzteres noch keineswegs ein einheitliches Gebilde ist. Vielmehr
stellt sich der genannte Gehirnabschnitt oder das „Protocerebrum“ im früheren weiten
Sinne wieder als eine Gruppe recht verschiedenartiger Elemente dar.
Ehe ich auf eine Erörterung über die Zusammensetzung des Gehirns im einzelnen eingehe,
halte ich es für angebracht, eine kurze Übersicht über die primären Bestandteile des
Scolopendergehirns zu geben, wie sie sich meinen Befunden zufolge herausgestellt hat.
Zusammensetzung des Oehirns von Scolopendra.
B e s t a n d t e i l e U r s p r u n g s o r t p r im ä r e Lag
I. V o r d e r h ir n = P r o to c e r e b r um s. lat.
1. Archicerebrum .................................... Clypeus .
„ * . 2. Lamitia dorsalis c e re b ri.................. mediale Hirngruben.......................... ..
P ro -. Syncerebrum { 3. . L.o.b.i frontales | } Prä° ral c - <j y 4. Lobi o p tic i......................................... J l'a t-e-r-a--l-e Himgor u—b e- n j
brum | Protocerebrum ( 5. Protocerebrum s. str............................ Präantennengruben....................... 1. postorales Segment
II. M i t t e l h i r n = D e u te ro c e r e b rum .
lTVx/r Iesocere, brum [ 1. Lobi olfactorii seu I 1 < An tennengruben > 2. postorales Segment
| antennales 1
III. H i n t e r h i r n i = T r i t o c e r e b r u m .
., Me.t a.. cere.b rum HEB Lobi tritocerebrales seu \ . _ < * Intercalargruben....................... } 3. postorales Segment
postantennales \
1) In den Arbeiten von Viallanes tritt diese Auffassung allerdings noch nicht deutlich hervor. Der Autor fasst
die Antennen als präorale oder wenigstens als parorale Gliedmassen auf und hält ihre postorale Lagerung für eine sekundäre.
Zoologien. Heft SS. 17