Zwar sehen wir die fibrösen Röhren, besonders im Weinstock,
wo sie eine beträchtliche Länge haben, ihre Säfte bey jeder Verwundung
des Holzes mit grofser Lebhaftigkeit ausstofsen; aber diefs nur
dann, wenn ihre vorhin dickeren Säfte durch die eintretende Wärme
eine gröisere Ausdehnung erhalten. I5) Nichts berechtigt uns, diese
häufigen Thränen des Weinstocks als eine Folge der thätigen Le benskraft
jener Röhren anzusehen. Sie hängen von Ursachen ab,
die nur dann eine so lebhafte Wirkung äufsern können, wenn die
eigentlichen Organe der Saftbereitung und Ausdünstung fehlen. Sie
gründen sich auf eine vorhergängige Anfüllung, nicht auf die einsaugende
Kraft der Röhren selbst. Daher wachsen sie täglich bey zunehmender
Wärme und hören dessen ungeachtet täglich bey steigender
Wärme auf, wenn sich der Druck der ausgedehnten Flüssigkeit
einen Ausweg verschafft hat; *6) ob sie gleich bisweilen mit steigender
Wärme zunehmen, wenn sie reichlicher vorhanden, oder die
Wege der Ausdünstung weniger geöffnet sind. »’ ) Abgeschnittene
Zweige, welche bey starker Kälte gar nicht thränten, sieht man häufig
eine ganze Stunde bluten, wenn man sie in ein warmes Zimmer
bringt. 1 8) Sind daher die Zweige eines Baums nicht ganz mit Saft
erfüllt, so tliränen sie nur bey einem gewissen Grade der Wärme,
bey einem geringeren nicht. Je saftreicher der Baum ist, bey desto
15) Dafs sich die Säfte bey niedriger Temperatur wirklich verdicken und zn-
sammenziehen, sieht man unläugbar in den beträchtlich grofsen Schläuchen
der äufsern Rinde junger Zweige des gemeinen Hollunders, welohe im Sommer
mit einem sehr, flüssigen Saft erfüllt sind, der sich (Tab. V . fig. i 5.)
im Herbst in ein grünes Kügelchen zusammenzieht. Merkwürdig ist es,
dafs man im Herbst eine grofse Menge nahe an einander liegender Kügelchen
in den fibrösen Röhren des Weinstocks antrifft, welche zur Thränen-
zeit allmählich verschwinden.
16) H a ie s vegetable stalicks. Lond. 1727. Chapt. 3. Exp er. 38. p. n 4.
37) H a i e s a. a. O. p. 118.
18) W a l k e r a. a. O. S . h y 5.
geringerer Wärme Ihränt er, und umgekehrt. Schwerlich würde
man diefs heftige Bluten, welches wir ohne diefs nur bey einigen Arten
bemerken, welches bey andern, z. B. dem Wallnufibaum, gleich
nach dem Fallen der Blätter, gerade dann eintritt, wenn die angenommene
Erregbarkeit der Röhren durch die vorhergegangene Warme
erschöpft ist, auf eine durch die Winterkälte erhöhte Reizbarkeit
gegründet haben, wenn man genauer, die Theile untersucht hatte,
deren Wirkungsart man bestimmen wollte. Wie kann man von festen,
holzichten, einfachen, cylindrischen Röhren, welche bey einigen
Pflanzen kaum die Länge von drey Linien haben, solche Wirkungen
der Reizbarkeit erwarten! Wären es blofs die fibrösen Rohren des
Splintes, welche wir so heftig bluten sehen, so wäre noch ihre organische
Zusammenziehung denkbar; obgleich gegen alle Analogie un
alle Beobachtung eine blofse einfache Membran einen Grad der R e iz barkeit
besitzen müfste, welche beynahe die des Herzens ubertrifft.
Aber nun sind es die fibrösen Röhren der innern Jahrringe, welche
gleichfalls eben so heftig thränen, und diese steifen, verholzten, festen
Röhren sollen eine Reizbarkeit zeigen, welche in ihren Wirkungen
fünfmal stärker ist, als die Gewalt, womit das Blut sich durch
die grofse Schienbeinarterie eines Pferdes bewegt.
L i s t e r bemerkte bereits, dafs der weifse Ahorn vom November
bis in den März nur dann blutete, wenn ein beträchtlicher Frost vorhergegangen
war. ” ) Wenn also in besonderen Wegen eine Flüs-
19) W a lk e r a. a. O. S. b j i .
20) H a i e s a. a. O. Chapt. 3. Exper. 36. p. 107»
M Extract of a Letter written by Mr. L i s t e r . Philosoph. Transact. Vol. V I .
1670. Febr. nr. 20. p. 2068. That the wounded Sycamores never bled,
neither in November, nor December, nor January, nor February, nor March,
( which‘ yet they did above 4o several times, that is, totally ceasing and
then beginning anew,) nnlefs there preceded a sensible and visible Frost.