
Insbesondere für die Entwicklung des echten Gastverhältnisses (Symphilie) der Myrmekophilen und
Termitophilen glaube ich gezeigt zu haben (60, 76, vgl. auch oben S. 47 u. 102), dass die vom Darwinismus
angenommenen Entwicklungsfaktoren sioh hier nicht bloss als unzulänglich, sondern auch als widerspruchsvoll
erweisen. Aus dem Schaden, welchen das echte Gastverhältniss der meisten myrmekophilen
Coleopteren ihren Wirthen verursacht, hatte ich geschlossen, die hochgradige Neigung der Ameisen
zur Pflege und Erziehung jener Gäste könne unmöglich durch Selection entstanden sein; denn dieselbe
kann nur nützliche Eigenschaften züchten, nicht schädliche. Escherich'j wendet hiegegen ein der
„ S y m p h i l i e i n s t i n k t “ sei kein eigener Instinkt, sondern identisch mit dem Brutpflegeinstinkt der
Ameisen; daher habe die Naturzüchtung der Entwicklung desselben auch in seiner Anwendung auf
die echten Gäste nicht entgegenwirken können. Hierauf ist Folgendes zu erwidern. Allerdings ist
der Symphilieinstinkt kein besonderer Instinkt wie etwa der Instinkt, bestimmte Gespinnste zu verfertigen,
bei Insekten, die mit Spinndrüsen ausgerüstet sind. Er gehört vielmehr, wie ich bereits
früher gezeigt habe (59 S. 107 ff.) zu den A d o p t i o n s in s t in k t e n im Thierreich. Er ist seinem
tiefBten Wesen nach nur e in e A u s d e h n u n g d e s G e s e l l i g k e i t s t r i e b e s u n d B r u t p f l e g e t
r i e b e s d e r Am e i s e n (Termiten) auf fremde, ihnen angenehm erscheinende Wesen. S p e c i a l i s i r t
ist er jedoch in Bezug auf sein Objekt und in Bezug auf die erstaunlichen Wirkungen, die er an demselben
hervorgebracht hat. Man wird nämlich, vom descendenztheoretischen Standpunkte aus, nicht
umhin können, anzuhehmen, dass die Entwicklung der Anpassungscharakterei:der Symphilen dadurch
mächtig gefördert wurde, dass die Ameisen (Termiten) die ihnen angenehmsten und bequemsten Gäste
hei ihrer Pflege b e v o r z u g t e n und dadurch eine instinktive Zuchtwahl ausübten, die nur in der vom
Menschen gegenüber seinen Kulturthieren geübten Zuchtwahl eine Parallele findet. Jene Anpassungscharaktere
der echten Gäste, welche dieselben für ihre Wirthe angenehmer und bequemer maohen,
z. B. die mannigfaltigen Exsudattrichome an den verschiedensten Körpertheilen der Gäste, sowie die
wunderbare Mannigfaltigkeit der Fühlerformen innerhalb der Gattung Paussus, sind daher j j l descen-
denztheoretisch betrachtet g l a ls Z ü c h tu n g s p r o d u k t e d e s S y m p h i l i e in s t i n k t e s S t t i r e r
W i r t h e zu b e z e i c h n e n .
Der Symphilieinstinkt ist somit in seiner W ir k u n g hochgradig specialisirt, obwohl er in
seiner W u r z e l auf den Geselligkeits- und Brutpflegetrieb der Ameisen (Termiten) zurüokzuführen ist.
Für das Verhälcniss dieses Instinktes zur Selectionstheorie dürfte folgende Erwägung ausschlaggebend
B e in . Die Naturzüchtung muss nicht bloss der Entwicklung eines speciellen Instinktes, der sich als
schädlich erweist, entgegenwirken, sondern sie muss mit derselben Nothwendigkeit auch der Ausdehnung
eines an und für Bich nützlichen Instinktes auf schädliche Objekte entgegenwirken. Da nun
aber die Ausdehnung des Brutpflegeinstinktes der Ameisen auf die genannten echten Gäste für die
Ameisen selber e n t s c h i e d e n s c h ä d l i c h ist, konnte die Naturzüchtung dieselbe nicht bloss nicht
befördern, sondern sie musste ihr positiv entgegenwirken, ebenso wie sie der Ausdehnung des Nahrungsinstinktes
eines Thieres auf angenehm schmeckende Giftpflanzen entgegenwirken musste. Der Widerspruch
dieser Thatsachen der Symphilie mit den Prinzipien der Selectionstheorie ist daher durch
Escberich nicht gelöst worden. Die Thatsache, dass die Ameisen in ihren Symphilen grossentheilB
ihre schlimmsten Feinde s e l b e r z ü c h t e n , ist ebenso unvereinbar mit der darwinistischen Form der
Descendenztheorie wie mit der Annahme einer Thierintelligenz.
’) Zur Anatomie und Biologie von Paussus turcicus, zugleich ein Beitrag zur Kenntnies der Myrmekophilie.
(Zool. Jahrb. Abth. f. System. XII. .1898, 8. 27— 70) S. 62 ff.
Auch daraus wird man mir keinen begründeten Vorwurf machen können, dass ich bei einer
vorurtheilsfreien Vergleiohung der psychischen Erscheinungen des Thierlebens mit den Aeusserungen
des menschlichen Geisteslebens zu dem Schlüsse gelangt bin, dass sowohl zwischen den Ameisen und
dem Menschen als auch zwischen den höheren Thieren und dem Menschen nicht bloss ein g ra d u e lle r ,
sondern ein w e s e n t l i c h e r Unterschied der psychischen Begabung bestehe. Neue Beweise hiefür
sind in vorliegender Schrift in dem Abschnitte über die verschiedenen Formen des Lernens erbracht
worden. Wenn man es daher als ein „Postulat der Entwicklungstheorie“ hinstellen wollte, dass der
Mensch sich auch in geistiger Beziehung von « Ib e r aus den höheren Thieren entwickelt habe, so
kann ich dieses Postulat nicht als berechtigt anerkennen, weil es im Widerspruch mit den biologischen
Thatsachen steht. Aehnlich wie das Postulat einer „Urzeugung« für die erste Entstehung der Lebewesen
aus der anorganischen Materie, so hat für mich als Naturforscher auch das Postulat einer
wesentlichen Gleichheit von Thier lund Mensch gar keine Bedeutung, so lange die Nichtigkeit desselben
nicht a u s d en T h a t s a c h e n b e w i e s e n w ird . Wenn man die rückhaltlose Anerkennung
derartiger Postulate als ausschlaggebend für den Werth einer naturwissenschaftlichen Studie betrachten
wollte, so würde man die freie Entwicklung; der Wissenschaft nur hemmen. Ich hege daher die
Ueberzeugung, welche der hochverdiente Rudolf Leuckart als Präsident der deutschen zoologischen Gesellschaft
in seiner Eröffnungsrede der ersten Generalversammlung dieser Gesellschaft ausgesprochen
und begründet hat, dass man den Werth einer zöblogisChen Arbeit nicht einseitig nach ihrem Verhältnisse
zur Entwicklungstheorie beurtheilen dürfe.