für eine Inkonsequenz, ganz ähnliche Erscheinungen bei den Ameisen und bei den höheren Thieren
mit einem so verschiedenen Maasse zu messen.
Dass beim „Gehen“ der Ameisen Reflexe mit im Spiele sind und zwar in bedeutendem Umfange,
stelle ich nicht in Abrede. Aber ähnliches ist auch bei den Gehbewegungen der höheren Thiere
sowie des Menschen der Fall, ohne dass man desshalb berechtigt wäre, auch dasjenige, was sie zu
diesem oder jenem Gange p s y c h i s c h b e w e g t , als blosse Reflexthätigkeit zu erklären. W e n n
m an d en A m e is e n n i c h t e in s in n l i c h e s W a h r n e h m u n g s - und S t r e b e v e r m ö g e n , d as
V e rm ö g e n d e r E m p f in d u n g u n d d e r w i l lk ü r l i c h e n B e w e g u n g z u e r k e n n t , w ir d man
n i e u n d n im m e r zu e in e r b e f r i e d ig e n d e n E r k lä r u n g ih r e r L e b e n s t h ä t i g k e i t e n g e la
n g e n . Eine „ T h i e r in t e l l i g e n z “ brauchen wir zur Erklärung der Handlungsweise der Thiere
keineswegs, weder bei den Ameisen noch bei den höheren Thieren. Aber die Thiere zu blossen
Reflexmaschinen ohne Empfindung zu machen, ist ebenso unhaltbar. Die Wahrheit liegt in der Mitte.
Es ist nur schwer begreiflich, wie Bethe die p s y c h i s c h e B a s i s der betreffenden Erscheinungen
des Ameisenlebens so vollständig übersehen konnte. Wenn eine Ameise Nahrung sucht
ausserhalb des Nestes, so muss dieser „Suchreflex“ (!) doch wenigstens seinen Grund haben in dem
Gefühle des Nahrungsbedürfnisses. Und wenn sie ein Zuckerkrümchen findet, das diesem Bedürfnisse
entspricht, so muss die sinnliche Wahrnehmung desselben, die Untersuchung mit den Fühlerspitzen
und die Beleckung desselben einen angenehmen Eindruck auf sie machen; sonst würde sie es liegen
lassen und sich nicht mehr darum kümmern als um irgend ein Sandkorn auf dem Wege. Nicht die
B e l a s t u n g ist es, was sie eigentlich zur Heimkehr mit dem Zuckerkrümchen veranlasst, sondern
die sinnliche Wahrnehmung eines Gegenstandes, der ihrem Nahrungsbedürfnisse entspricht und in ihr
desshalb den instinktiven Trieb erregt, das Ding zu belecken und dann mitzunehmen. Der Unterschied
zwischen Instinkt und blosser mechanischer Reflexthätigkeit dürfte hier doch für einen aufmerksamen
Beobachter klar genug vorliegen.
Warum „ s u c h t“ eine Ameise die von ihr verlorene Spur, auf welcher' sie vorher ging? Der
Verlust der Spur hat nach Bethe einen „Unruhereflex" in ihr ausgelöst. Wenn dieser „Unruhereflex“
nicht mit einem Unlustgefühl auf Seite der Ameise verbunden ist, dann ist er ein l e e r e s W o r t , das
gar nicht erklärt, wesshalb die Ameise in Unruhe geräth. Der „U n r u h e r e fle x “ soll sodann einen
„ S u c h r e f l e x “ rein mechanisch auslösen. Aber was ist dieser „Suchreflex“ anderes, als ein verblümter
Ausdruck für das Streben der Ameise, die gewohnten sinnlichen Eindrücke, deren Mangel sie
in Unruhe versetzt, wieder zu gewinnen? Ohne die Voraussetzung eines sinnlichen Empfindüngs- und
Strebevermögens werden alle diese so schön und wissenschaftlich klingenden „Reflexe“ nichts als
le e r e W o rte sein und bleiben, die zu keiner befriedigenden Erklärung auch nur der allergewöhnlichsten
Erscheinungen des Ameisenlebens genügen. Man könnte zu einem derartigen Erklärungsversuch mit
Recht sagen: wo die Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.,
Wenn eine bestimmte, der Nahrungssuche dienende Fährte von Lasius von einer Ameise mit
Erfolg begangen ist, so bildet sich, wie auch Bethe selbst beobachtet hat, nach und nach eine Ameisenstrasse,
die in immer geraderer Richtung zu jenem Punkte hinführt und ihn mit dem Neste verbindet.
Es fragt sich nun, wesshalb gehen die Ameisen mit besonderer Vorliebe gerade d ie s e n Weg? Wäre
es b lo ss der Geruch der Fährte, der sie „rein reflektorisch“ zum Vorangehen zwingt, dann müssten
sie, wenn man die Geruchsfährte unterbricht, entweder wie Stöcke stehen bleiben oder rein reflektorisch
in der alten Richtung voranstürzen oder umkehren. Sie thun aber meist nichts von alledem, sondern
sie s u c h e n die verlorene Fährte indem sie hin- und herlaufen; nachdem eine an irgend einer Stelle
den Uebergang in der alten Richtung gewagt hat, folgen ihr die übrigen, und gehen auf der wiedergefundenen
Fährte weiter. Die „Chemorezeption“ der Geruchsfährte ist also bloss der W e gw e ise r
für das sinnliche Wahrnehmungs- und Strebevermögen der Thiere; der eigentliche Grund, wesshalb
sie vorangehen, ist, weil sie etwas suchen, was auf sie eine angenehme Anziehungskraft ausübt. Diese
Anziehungskraft ist keine rein c h em i s c h e , da die'Geruchsfährte ja unterbrochen ist, sondern eine
in s t in k t iv e . Die betreffende Geruchswahrnehmung der Fährte hat in ihnen den Trieb angeregt,
i^en so riechenden Gegenstand zu s u c h e n .- Und wenn sie ihn gefunden haben und durch die Be-
„Jsckung desselben die Erfahrung gemacht haben, dass er angenehm schmeckt, so wird diese sinnliche
Erfahrung ihren Instinkt unterstützen, so dass sie zum zweitenmal denselben Weg um so eifriger begehen.
Zu diesem Ergebnisse gelangen wir durch eine v o r u r t e i l s f r e i e philosophische Analyse der
betreffenden Thatsachen. Bei höheren Thieren würde es auch schwerlich Jemand einfallen, die
Richtigkeit dieser Erklärung zu bezweifeln. Wenn ein Raubthier, das irgendwo eine Beute erlegt
hat, später zu derselben Stelle zurückkehrt, wird es nicht b lo s s durch den Geruch der Fährte, den
es zurückgelassen, hiezu bestimmt werden, sondern a u c h durch die angenehme Erfahrung, die ea an
der betreffenden Stelle gemacht hat. Es ist nicht einzusehen, wesshalb man für die Nahrungssuche
dev Ameisen eine andere Erklärung suchen sollte als eben diese.
Aus meinen Beobachtungen an Formica sanguinea, welche ich gelegentlich der statistischen
Aufnahme der hiesigen smguinea-Kolomen gemacht, sei hier die folgende angeführt, die von besonderem
Interesse ist für die Frage, wie die Ameisen ihren Weg finden.
Kolonie 305 meiner Karte ist eine jener sanguinea-Kolonien, welche gleichzeitig oder abweohBelnd
zwei weit voneinander entfernte Nester bewohnt. Das alte Nest (305), zugleich Winternest,
befindet sich auf der Südseite eines mit Buchen bewachsenen-, flachen Hügels. 18 m (60') davon
entfernt nach N.W.N. liegt das andere Nest,- welches wiederum aus mehreren am Fusse einiger alter
Eichenstrünke befindlichen Nestern sioh zusammensetzt, von denen vorzugsweise eines (305a) bewohnt
wird. Zwischen diesem auf dei§jpördlichen Abhang dehyniedrigen Hügels gelegenen Neste und dem
Neste 350 war im letzten Jahrey|ä897) der Boden mit Haidekraut, Gras und Moos dicht bewachsen.
Am 26. Juni 1897 hatte ich glücklicherweise gerade die Auswanderung von 305 nach 305a beobachtet,
wodurch die Feststellung der Zusammengehörigkeit derselben sicher war. Sonst fand ich später stets
nur die beiden Nester theils gleichzeitig, theilfe abwechselnd bewohnt, ohne dass Ameisen zwischen
ihnen hin- und herliefen. Der nur seltenH n Zwischenräumen von mehreren Wochen, stattfindende
Nestwechsel wurde theils durch die Witterungsverhältnisse, theils auch durch die Besuche veranlasst,
die ich den Nestern abstattete, und bei denen ich die auf das Nest gelegten Haidekrautschollen aufhob,
um den Stand der Kolonie zu beobachten.
Am 24. Juli 1897 kam ich; wieder einmal zu Nest 305 a und fand dasselbe beim Abheben der
Scholle stark besetzt; auch eine Menge Arbeiteroocons war da. Zu meiner grossen Ueberraschung
nahmen sofort einige der sanguinea Arbeiteroocons in’s Manl und flüchteten mit denselben in der geraden,
unmittelbaren Richtung nooh 305! Ich beobachtete diese Ameisen genau und sah, dass keine
die Fährte der vorauslaufenden verfolgte, sondern unabhängig von dem Wege, den die andere genommen,
dieselbe Richtung nach 305 genau einhielt. Hindernisse, wie Grasbüschel, Erdlöcher u. s. w. wurden von
den Ameisen in ganz verschiedenerWeise umgangen, ohne dass eine derselben die Richtung verloren
hätte, deren Einhaltung durch den dicht bewachsenen Weg und durch die Belastung der Ameisen')
*) Dass mit Cocons belastete Ameisen den Weg schwerer finden als unbelastete, ist durch Forels Beobachtungen
längst bekannt, und ich fand es oft bestätigt.