s e lb e n o p t i s c h e n E in d r u c k m a c h t w ie v o r h e r . Ich frage: nennt man das blosse Reflexbewegung,
oder handelt es sich nicht vielmehr um e in e V e r b in d u n g m e h r e r e r s in n l i c h e r
W a h r n e h m u n g e n , d e r e n r e g e lm ä s s i g e s Z u s am m e n t r e f f e n e in e n e u e A s s o c i a t i o n
in dem G e h ir n d e r A m e i s e b e w i r k t , in F o lg e d e r e n s ie ih r e f r ü h e r e H a n d lu n g s w
e i s e m o d i f i c i r t ? Ich glaube, wenn man nicht auf eine vernünftige Erklärung dieser Erscheinung
verzichten will, so wird man das letztere zugeben müssen.
Da Formica rufa und pratensis bei den Vertheidigungsbewegungen, zu denen der Gesichtseindruck
des sich bewegenden Fingers sie reizt, meist in loco sitzen bleiben, können sie die Glaswand,
die sie von demselben trennt, nicht so rasch kennen lernen wie F. sanguinea. Es ist dies
wenigstens eine der Ursachen, welche bewirkt, dass sie auf das Fingermanöver länger reagiren als
diese. Doch erfahren auch sie regelmässig, dass auf jene Fingerbewegungen hin weiter nichts Unangenehmes
erfolgt. Dadurch bildet sich auch bei ihnen allmählich eine auffallende Gleichgültigkeit
gegen jene Gesichtseindrücke aus. Dass es sich auch hiebei um einen psychischen Prozess handelt,
nicht bloss um einen reflektorischen Vorgang, geht schon daraus hervor, dass ein und dasselbe Individuum
zum zweiten und drittenmal nicht in derselben Weise reagirt wie das erstemal, wenn man rasch
nacheinander das Experiment wiederholt. Von einer unmittelbaren reflektorischen Nöthigung kann
auch hier keine Rede sein. Sonst müssten die rufa und pratensis sich ja auch leicht dazu verleiten
lassen, in dem verschlossenen Glasgefässe gegen den sich hinter dem Glase bewegenden Finger wirklich
zu s p r i t z e n , wie sie es auf dieselbe Distanz thun würden, wenn kein Glas zwischen ihnen und dem
Finger wäre. Aber es gelingt höchstens bei den allerersten Versuchen, und auch dann nur vorübergehend,
die Ameisen durch das Fingermanöver zum thatsächlichen Ausspritzen des Giftes zu bewegen.
Der Ameisensäuregeruch, der sofort das verschlossene Glasgefäss erfüllt, ist ihnen selber so unangenehm,
dass sie es nicht wieder thun, wenigstens nicht auf blosse Gesichtseindrücke hin.
Die sanguinea meines oben abgebildeten Beobachtungsnestes sind schon seit langer Zeit völlig
gleichgiltig dagegen, wenn ich dem Vorneste oder dem Oberneste meinen Finger nähere und rasch
hin- und herbewege. Bei einer jungen, frisch entwickelten Ameise1) kommt es hie und da noch vor,
dass sie anfangs darüber erschrickt und die Kiefer drohend öffnet; aber schon beim zweiten und dritten
Versuche reagirt sie nicht mehr. Die F. rufa und pratensis desselben Beobachtungsnestes, die zum
Theil zwei Jahre alt sind, verhalten sich im Vor- und Oberneste ebenfalls für gewöhnlich gegen jene
Gesichtseindrücke indifferent; nur einzelne Individuen, die gerade als „Wachtposten“ besonders aufmerksam
auf die Umgebung achten, lassen sich durch das Fingermanöver oft noch zum vorübergehenden
Aufspringen und zum Oeffnen der Kiefer reizen, zumal dann, wenn ich die Ameisen kurz vorher
dadurch aufgeregt habe, dass ich die Verbindungsröhre des Obernestes mit dem Abfallnest oder dem
Fütterungsrohr herauszog und ihnen eine Fliege oder einen anderen Gegenstand durch diese
Oeffnung hineinsetzte. Auch wenn ich vorher das Obernest um seinen Mittelpunkt ein wenig
hin und her drehe, dadurch die Aufmerksamkeit der Ameisen errege und ihnen dann den sich bewegenden
Finger Vorhalte, springen manche rufa und pratensis beim Anblick des- Fingers sofort auf,
öffnen drohend die Kiefer und folgen für einige Augenblicke mit ihren Bewegungen denjenigen des
Fingers. Während das Fingermanöver allein genommen sie jetzt für gewöhnlich gleichgiltig lässt, erschrecken
die rufa und pratensis im Oberneste, wenn ich den Kopf dem Glase nähere, sogar falls ich
*) Dieselben sind durch hellere Färbung oft noch monatelang kenntlich. Die Ausfärbung der Arbeiterinnen
erfolgt bei manchen Individuen viel langsamer als bei anderen.
ihn nicht hin- und herbewege. Es ist dies für sie eben eine neue, völlig fremde sinnliche Wahrnehmung,
die sie veranlasst, sich in Verteidigungsstellung zu setzen. Sogar eine der F. sanguinea,
die doch bereits in viel höherem Grade indifferent sind, gegen die durch das Glas zu ihnen gelangenden
Gesichtseindrücke, liess, sich heute (22. März 1898) durch dieses neue Manöver beim erstenmal aufregen;
sie sprang mit drohend geöffneten Kiefern auf dio Stelle der Glaswand zu, wo der Kopf sichtbar
wurde; aber damit war die Wirkung des Experimentes bei ihr schob zu Ende; selbst das Hin- und
Herbewegen des Kopfes liess sie gleich darauf völlig gleichgiltig; sie ging wieder fort, ohne sich da-
durch weiter reizen zu lassen.
Dass die Indifferenz dieser Ameisen gegen die durch das Glas zu ihnen gelangenden Gesichtseindrücke
nicht auf einer verminderten physiologischen Leitungsfähigkeit der betreffenden Reflexbahnen
beruht, sondern auf einem psychischen Prozesse der sinnlichen Wahrnehmung und Erfahrung, zeigt
sich auch aus folgenden Beobachtungen.
Ich hatte den in der Abbildung (Taf. I.) als Abfallnest bezeichneten Nesttheil während des
Winters 1897—9 8 ‘fortgenommen, um ihn von den Ameisenleichen und den anderen Nestabfällen zu
reinigen, welche die Ameisen im letzten J ä h r # jä te lb |i; aufgehäuft hatten. Als ich nach mehreren
Monaten Anfang März 189® das unterdessen sorgfältig ausgewaschene und getrocknete Abfallnest
wieder mit dem Oberneste verband, mussten die Anreisen dasselbe erst wieder aufs neue kennen lernen.
Einzeln«„Si»!^!ii)Ka, rufa ünd pratensis untersuchten in den ersten Tagen das ganze Abfallnest sorgfältig
mit ihren Fühlern nnd blieben dann dort lange Zeit ruhig sitzen. Bei ihnen gelang nun das
Experiment mit den drohenden Fingerbewegungen anfangs wiederum vollkommen, und zwar nicht bloss
bei rufa und pratensis, sondern sogar bei sanguinea. D ie s e lb e n Ameisen benahmen sieh gegenüber
d em s e lb e n Gesichtseindrüoken ganz anders im Abfallneste als im Oberneste. Hätten die Ameisen
im Sinne der Reflextheorie physiologisch verlernt, auf die betreffenden Gesichtseindrücke durch einen
»Vertheidigungsreflex« zu reagiren, sei hätten sie auch jetzt im Abfallneste nicht mehr darauf reagiren
können. Sie brauchten dann nicht erst wieder durch sinnliche Erfahrung zu-lernen, dass auch hier
eille schützende Wand von dem sich bewegenden Gegenstände sie trenne. Dieser Nesttheil war ihnen
eben n e u , weil er über ein Vierteljahr fortgewesen und zudem völlig ausgewaschen worden war.
Daher fühlten sich die Ameisen bei den ersten neuen Besuchen hier noch nicht so sicher wie im Vornest;
daher machte auch die Gesichtswahrnehmung des sieh bewegenden Fingers h ie r wiederum anfangs
auf sie einen beunruhigenden Eindruck, bis sie durch Erfahrung merkten, dass auch hier etwas
Festes, Trennendes, zwischen ihnen nnd dem Finger sei. Besonders auffallend war mir dies bei einer
der ersten sanguinea, welche das neue Abfallnest besuch! en. Als ich ihr 'zum erstenmal den Finger
drohend näherte, stürzte sie mit geöffneten Kiefern auf denselben los; aber an der Ställe der Glaswand
angekommen, durch welche sie den Finger gesehen hatte, war sie sofort beruhigt und begann
die Niederschläge an derselben aüfzulecken. Das zweite und drittemal reagirte sie bereits gar nicht
mehr auf dasselbe Experiment.
Dass die sanguinea in dem Vornest und dem Obernest sich gegenüber denselben Gesichtseindrücken
gleichgiltig verhalten, welche in dem neu) angefügten Abfallneste sie anfangs wiederum in
Aufregung versetzten, ist nicht bloss daraus zu erklären-, dass etwa der Geruch der beiden ersteren
Nesttheile einen beruhigenden Eindruck auf sie ausübt; denn gegen Beutethiere oder Feinde, die ich
ihnen dort hineinsetze, benehmen sie sich ganz mit ihrer alten Wildheit wie in freier Natur. Ferner
hatte ich im Winter 1897—98 auch diese Xenion Nesttheile für einen Tag fortgenommen, völlig ausgewaschen,
mit einem Tuche ausgerieben und neu eingerichtet (mit frischer Erde im Vorneste und