
als bei einem jungen Iiunde oder Affen. Das junge Menschenkind braucht noch weit länger als ein
junger Affe, bis es allein gehen kann. Hier kommt bereits ein Unterschied hinzu, der zwischen den
Ameisen und den Affen nicht besteht: das Menschenkind muss durch f r em d e A n l e i t u n g g e h e n
l e r n e n , wenn es diese Fertigkeit nicht unendlich langsam erwerben soll; bei den Affen ist eine derartige
Nothwendigkeit bisher ebensowenig konstatirt als bei den Ameisen. Aber auch beim „G eh en
l e r n e n “ des Kindes ist dieses „Lernen“ nur zum geringsten Theil ein psychischer Vorgang: d e r
H a u p t s a c h e n a c h i s t e s a u ch h i e r e in e b l o s s e E in ü b u n g v o n R e f l e x b e w e g u n g e n .
Aehnlich verhält es sich mit dem „Fressen lernen“. Auch hier ist der Unterschied zwischen
den Ameisen und den Säugethieren ein weit geringerer als zwischen den höchsten Säugethieren und
dem Menschen, soweit psychische Elemente hiebei in Betracht kommen. Der junge Hund oder Affe
erkennt wie die junge Ameise durch den Geruchssinn unmittelbar seine ihm zusagende Nahrung infolge
eines erblichen Instinktes, oder wie B. sagen würde, „eines erblichen Chemoreflexes“ ; das junge
Menschenkind dagegen wäre schlimm daran, wenn es für seine Nahrungsaufnahme auf diesen Faktor
angewiesen wäre. Es müsste, wenn es die Mutterbrust nicht mehr erhält, w i r k l i c h e r s t d u r ch
e i g e n e s in n l i c h e E r f a h r u n g l e r n e n , welche Nahrung ihm zusagt, welche nicht, da sein Instinkt
hierin viel unvollkommener ist als jener des jungen Säugethieres. Wenn die Eltern des Kindes
ihm den Lernprozess nicht erleichterten, indem sie ihm die passende Nahrung reichen, würde das Kind
in einer sehr fatalen Lage sich befinden bei seinem „Fressen lernen“, während der junge Hund oder
der junge Affe sich bereits selber zu helfen vermögen. Allerdings wird auch bei den jungen Säugethieren
der erbliche Instinkt, durch den sie ihre Nahrung am Gerüche u. s. w. unmittelbar erkennen,
noch überdies durch die sinnliche Erfahrung des Individuums vervollkommnet. Aber dasselbe ist,
wenngleich in geringerem Grade, auch bei den Ameisen der Fall. Eine junge Ameise kann durch
Lecken an einem trockenen Zuckerkrümchen, oder an einem ändern Gegenstände, dessen Geruch sie
durch keinen ererbten Instinkt kennt, die Erfahrung machen, dass der betreffende Gegenstand gut
schmeckt, und sie kann dadurch ihre Naschhaftigkeit einem neuen, ihr völlig unbekannten Gegenstände
zuwenden. Es scheint mir daher, dass jene beiden Beispiele vom „Lernen“ des Gehens und
Fressens etwas ganz anderes beweisen als sie nach der Absicht Bethe’s beweisen sollten. Bei näherer
Prüfung zeigt sich klar, dass gerade in diesen Punkten eine weit grössere Aehnlichkeit zwischen den
Ameisen und den höheren Säugethieren besteht, als zwischen den höheren Säugethieren und dem
Menschen.
Bethe hat ebenso wie H. E. Ziegler und andere moderne Thierpsychologen unter dem Begriff
des „ L e r n e n s “ eine Reihe ganz verschiedenartiger Dinge vermengt, welche man im Interesse einer
kritischen Psychologie genau von einander unterscheiden muss. Nicht j e d e vom Individuum „ e r l
e r n t e “ Thätigkeit beruht auf einem in t e l lig e n t e n L e rn en . D a h e r is t e s v ö llig u n z u lä s s ig ,
d as L e rn e n s c h le c h th in zum K r iterium der „ I n t e llig e n z “ zu m a ch en , w ie d ie m o d e rn e
T h ie r p s y c h o lo g ie e s th u t, od e r zum K r ite r ium d er p sy c h is c h e n Q u a litä t e n , w ie B e th e
e s v e r su ch t hat. Vielleicht können die folgenden Ausführungen dazu dienen, diesen Irrthum aufzuklären.
Ich bitte, dieselben vorurtheilslos zu prüfen, ohne.Rücksicht auf irgend ein „philosophisches
System.“
Man muss meines Erachtens ein s e c h s f a c h e s „ L e r n e n “ auf Grund der biologischen That-
sachen unterscheiden.
1. Die e r s t e und e i n f a c h s t e F o rm desselben zeigt sich bei jenen Fertigkeiten, welche
vom Individuum d u r c h b lo s s e E in ü b u n g v o n R e f l e x b e w e g u n g e n e r w o r b e n w e rd en -
Sie beruht auf einem e r e r b t e n R e f l e x m e c h a n i sm u s und hat mit „Intelligenz“ gar nichts zu
schaffen. Hieher gehört z. B. die Art und Weise, wie die Ameisen und die höheren Thiere „Gehen
lernen“. Die Gehbewegungen, an sich betrachtet, sind Reflexbewegungen. Dass der ererbte Mechanismus,
welcher ihnen zu Grunde liegt, infolge der Uebung vollkommener und rascher funktionirt, ist nicht
eine Folge der sinnlichen Erfahrung des Thieres, sondern eine Folge der durch die Thätigkeit des
betreffenden Reflexmechanismus erhöhten mechanischen und physiologischen Funktionsfähigkeit desselben.
Hiezu kommt allerdings e in psychisches Element. Das Thier,1) ja auch der Mensch, hat den
instinktiven Trieb, seine Bewegungsorgane zu gebrauchen. Dieser Trieb umschliesst das psychische
Element der sogenannten M u s k e lg e fü h l e ; der Vorgang ist daher nicht ein r e in r e f l e k t o r i s c h e r
zu nennen, weil der Trieb zur Bewegung durch jene Muskelgefühle a u s g e lö s t w ird . Falls die
Bewegung, durch die sinnliche Wahrnehmung irgend eines äusseren Objektes veranlasst wird, welchem
das Thier sich nähert oder vor welchem es flieht, so kommen selbstverständlich noch die psychischen
Elemente d e s s in n l i c h e n W a h rn ehm u n g s - und S t r e b e V e rm ö g en s hinzu. Beim Menschen
tritt, wie die Erfahrung an uns selber beweist, häufig noch irgend eine in t e l l i g e n t e Er k e n n tn is s ,
e in e i n t e l l i g e n t e A b s i c h t zur Leitung seiner Bewegungen als n e u e s psychisches Element zu
den ebengenannten hinzu. Den Thieren dürfen wir dieses letztere Element erst dann zuschreiben,
wenn die sinnliche Wahrnehmung und VorstellungsVerbindung nicht mehr ausreicht zur Erklärung der
betreffenden Thatsachen. Solche Thatsachen sind jedoch meines Wissens bisher nicht erbracht worden.
Die einfachste und ursprünglichste Form des „ L e r n e n s “ ist somit ihrem Wesen nach eine
blosse E in ü b u n g v o n R e f l e x b e w e g u n g e n , welche durch einen instinktiven Trieb verursacht und
durch die Muskelgefühle des’ Individuums ausgelöst wird. Das psychische Element ist hier noch ein
relativ sehr unbedeutendes. Die jungen Lämmchen springen, weil ihre Muskelgefühle sie dazu reizen
und weil das Nichtspringen eine unangenehme Hemmung des unklar empfundenen Springbedürfnisses
wäre. Durch diese instinktive Uebung ihres reflektorischen Springvermögens l e r n e n sie immer besser
und sicherer zu springen. Ebenso ist auch das „Spielen“ der jungen Hunde und Katzen am natürlichsten
zu erklären,2) sowie die „Spiele“, welche die Formica-Arten ausführen, wenn sie in den
ersten Strahlen der warmen Frühlingssonno klumpenweise auf der Nestoberfläche sich sammeln. Ich
habe diese Spiele der Ameisen sowohl im Freien‘als auch in meinen Beobachtungsnestern von F. rufa,
pratensis und sanguinea häufig beobachtet. Mehr dahinter zu suchen, als eine instinktive Bethätigung
und Einübung reflektorischer Bewegungen, ausgelöst durch einen in Muskelgefühlen sich kundgebenden
physiologischen Reiz, das halte ich nicht für begründet, weder bei den Ameisen noch bei den
höheren Thieren.
2. Eine zweite Form des „ L e r n e n s “ ist jen e, wo die neue individuelle Handlungsweise
durch d ie s e lb s t ä n d i g e s in n lic h e E r fa h r u n g d e s T h i e r e s e rw o r b e n w ird . Auf diese
Weise lernen z. B. die Ameisen neue echte Gäste kennen, deren Geruch sie anfangs zum feindlichen
Angriff reizte. Indem sie jedoch durch zufällige Berührung ihres Mundes mit den gelben Haarbüscheln
*) Selbstverständlich kann hier nur von jenen Thieren die Rede sein, welche ein Centralnervensystem und
quergestreifte Muskelfasern besitzen.
2) Gr o o 8, „Die Spiele der Thiere“ (Jena, 1896) hat den sogenannten Spielen bei den höheren Thieren zum
Theil eine Erklärung uutergelegt, welche in der Vermenschlichung des Thieres zu weit zu gehen scheint. Bezüglich der
Spiele der Ameisen (S. 125 u. 135), die er mit Büchner als Jagdspiele und Kampfspiele deutet, wird man wohl ebenfalls
zugeben müssen, dass diese Deutung einer a b s i c h t l i c h e n V o r b e r e i t u n g auf spätere ernste Gelegenheiten
in den betreffenden Thatsachen nicht begründet ist.