
Publikationen über die Ameisen von Forel, Lubbock und mir bekannt sein können. Eine spezielle
Behandlung derselben hatte ich in einer früheren, Herrn Bethe bekannten Schrift (59) in einem eigenen
Abschnitte „der vorgebliche Automatismus im Seelenleben der Ameisen“ geliefert. Ich hatte damals
noch keine Ahnung davon, dass es Jemanden, der selber das Ameisenleben beobachtet hat, einfallen
könne, die Ameisen zu blossen Reflexmaschinen ohne Empfindung und Wahrnehmung zu machen.
Meine damaligen Ausführungen waren somit nicht gegen die neue Theorie Bethe’s gerichtet, die noch
nicht existirte. Unter anderen, von Bethe völlig übersehenen Thatsachen ist daselbst auch bereits die
folgende mitgetheilt. Einigen sanguinea meines Beobachtungsnestes ’) war es nach vielen vergeblichen
Versuchen eüdlich gelungen, einige Exemplare von Dinarda Märlceli, die ich ihnen hineingesetzt hatte,
trotz der fast unangreifbaren Trutzgestalt dieser Käfer zu fangen; die Gefangenen wurden getödtet
und aufgefressen. Diese an Dinarda Märlceli gemachte Erfahrung hatte nun die merkwürdige Folge,
dass dieselben Ameisen ihre Fangversuche auch auf die ein wenig kleinere und daher noch schwerer
zu fangende Dinarda dentata ausdehnten, welche bisher in diesem Neste (wie in allen sanguinea-Nestern)
als in d i f f e r e n t g e d u ld e t e r G a s t behandelt worden war. In ein paar Wochen hatten die Dinarda-
Jägerinnen ihre Geschicklichkeit im Fange so weit vervollkommnet, dass sie auch die D. dentata zu
fangen vermochten und eine nach der anderen auffrassen, bis keine einzige Dinarda mehr im Neste war.
Zur psychologischen Erklärung dieser Thatsache ist Folgendes zu berücksichtigen. Die instinktive
Duldung der D. dentata bei F . sanguinea beruht zwar in letzter Instanz, auf der habituellen
Unangreifbarkeit dieser Käfer; sie ist ein im Laufe vieler Jahrtausende e r w o r b e n e r I n s t in k t , der
jedoch gegenwärtig allen jungen F. sanguinea wirklich angeboren ist. Herr Bethe würde somit sagen
„es ist ein erblicher Duldungsreflex“. Das gewöhnliche Benehmen der Formica-Arten gegenüber der
ihnen angepassten Dinarda-Art (resp. Dinarda-Rasae) ist ein völlig friedliches. Nur hie und da springt
eine Ameise, wenn sie eine Dinarda vorüberlaufen sieht, mit geöffneten Kiefern auf sie los und berührt
sie mit den Fühlerspitzen, worauf der Käfer seine Hinterleibsspitze erhebt und dieselbe dem Munde
der Ameise nähert; die-Ameise zieht sich dann gleich wieder ruhig zurück. Dieses Benehmen der
Ameisen gegen ihre Dinarda ist so wenig ein feindliches, dass Grim, welcher es 1845 zum ersten Mal
(zwischen F . rufa und D. Märlceli) beobachtete, glaubte, die Ameise b e l e c k e die Hinterleibsspitze
der Dinarda. Das war allerdings ein Irrthum; die gegenseitige Berührung zwischen der Hinterleibsspitze
des Käfers und dem Munde der Ameise ist nur eine ganz flüchtige, momentane; ich habe sie
unzähligeraal sogar unter der Lupe beobachtet und niemals dabei eine'Leckbewegung an der Unterlippe
der Ameise bemerkt. Jene Berührung scheint vielmehr auf die Ameise bloss einen b e r u h ig e n den
Eindruck zu machen, so dass sie den Käfer nicht weiter verfolgt. Dass ein derartiger erblicher
Instinkt, wie die indifferente Duldung der entsprechenden Dinarda-Rasse, durch die individuelle Erfahrung,
welche die Ameisen (F . sanguinea) an einer a n d e r e n , ein wenig grösseren Dinarda-Form
gemacht, in kurzer Zeit in eine heftige Neigung zur feindlichen Verfolgung ihrer e i g e n e n Dinarda-
Rasse sich verwandeln kann, ist schon eine sehr merkwürdige Thatsache. Noch merkwürdiger ist es,
dass überdies in derselben Zeit von wenigen Wochen auch die i n d i v i d u e l l e G e s c h i c k l i c h k e i t
der Ameisen im Fange der Dinarda sich durch Erfahrung und Uebujag so weit vervollkommnete, dass
F. sanguinea die sonst für sie unangreifbare Dinarda dentata zu erwischen vermochte. Während sie
anfangs auf die Hinterleibsspitze des Käfers, die derselbe ihnen sofort entgegenhielt, losstürzten und
J) Es ist dies das auf Taf. I abgebildete Beobachtungsnest der gemischten Kolonie von F. sanguinea mit
mehreren Hilfsameisenarten.
dieselbe vergeblich zu erfassen suchten,, lernten sie allmählich, mit einem plötzlichen Sprunge von der Seite
her einen Fühler oder ein Bein des Käfers zu ergreifen und ihn so festzuhalten; dann kamen andere
Ameisen hinzu, fassten andere Extremitäten der gefangenen Dinarda und rissen sie als Beute in Stücke.
Hier liegen Thatsachen vor, welche klar beweisen, dass auch Ameisen fähig sind, „ s e lb s t s
t ä n d ig , a u s u n z w e i f e lh a f t e n E r fa h r u n g e n h e r a u s , ih r H a n d e ln zu m o d i f i c i r e n .“
Ein vorurteilsfreier Beobachter wird hieran schwerlich zweifeln können.
Auch die Thatsache, dass Ameisen g a n z fr em d e e c h t e G ä s t e , auf deren Geruchsstoff
sie bei der ersten Begegnung in entschieden feindlicher Weise reagirten, d u r ch in d i v id u e l l e Erfa
h r u n g a ls a n g e n e h m e W e s e n k e n n e n l e r n e n k ö n n e n und sie bald sogar wie Ihresgleichen
oder wie ihre eigene Brut pflegen, hätte Herrn Bethe bereits aus den „ I n t e r n a t io n a l e n B e z
i e h u n g e n v o n Lomechusa strumosaa (24) einigermassen bekannt sein können. Auch aus diesen
Thatsachen ging bereits klar hervor, dass die Ameisen „ s e lb s t ä n d i g u n d o h n e B e l e h r u n g au s
u n z w e i f e l h a f t e n E r f a h r u n g e n h e r a u s ih r H a n d e ln zu m o d i f i c i r e n v e rm ö g e n .“ Es
scheint daher, dass die. 1898 an mich gerichtete Aufforderung „D ie s s o l l W a sm a n n v o n d en
A m e is e n n a c h w e i s e n , e s w ird ;i|hm n ie h t g e l in g e n “ — ein wenig zu spät erschienen ist.
In vorliegender Arbeit wurde noch eine Reihe von neuen Beobachtungen mitgetheilt, welche
den früher geführten Beweis bekräftigen, dass die Ameisen durch die sinnliche Erfahrung des Individuums
wirklich Manches zu „ le r n e n “ vermögen, was ihnen keineswegs „ a n g e b o r e n “ war. Ich
glaube nicht, dass Herr B. auch jetzt noch erklären wird, etwas derartiges existire nicht; denn er
sagt am Schlüsse seiner Schrift (S. 98): „Ich will mich gern überzeugen lassen, dass auch die Wirbellosen,
speziell die Hymenopteren, über psychische Qualitäten verfügen, wenn mir jemand vollgültige
Beweise vorführt.“
D r i t t e n s . Bethe hat ebendaselbst den Satz aufgestellt, d ie H u n d e und A f f e n m ü s s t e n
A l l e s e r s t l e r n e n , g e n a u w ie d e r M e n s c h , s e l b s t d a s G e h e n und F r e s s e n . Wer mit
voller Unbefangenheit den psychischen Lebenserscheinungen in der Thierwelt gegenübertritt und das
Thier nicht willkürlich zu vermenschlichen geneigt ist, wird zugeben müssen, dass jener Satz eine
offenbare Uebertreibung enthalte und wegen dieser Uebertreibung unrichtig sei. Auch bei den höchsten
Säugethieren geht die erbliche Determination zu bestimmten Thätigkeiten noch bedeutend weiter als
beim Menschen. Was insbesondere das Gehen und Fressen der Hunde und Affen anlangt, hätte sich
hier eine schöne Gelegenheit geboten, die Reflextheorie auch auf die höheren Thiere anzuwenden;
denn gerade das sogenannte „Lernen“ dieser Thätigkeiten untersteht nicht bloss bei den Ameisen,
sondern auch bei den Hunden und Affen viel weniger dem psychischen Einfluss als die meisten übrigen
ihrer instinktiven Handlungen. Wie eine frisch entwickelte Ameise anfangs nur langsam, unsicher
und wackelnd ihre Beine beim Gehen zu bewegen vermag, so auch ein junger Hund oder ein junger
Affe; ja auch das junge Menschenkind vermag sich anfangs, und zwar noch viel längere Zeit, nur
wackelnd und unsicher zu bewegen — wenn die Mama es nicht bei der Hand führt, was man bisher
bei den Hunden und Affen noch ebensowenig gesehen hat wie bei den Ameisen. Die Fertigkeit
im Gehen wird allerdings bei den höheren Thieren weit langsamer erworben als bei den Glieder-
thieren; aber das ist o r g a n i s c h , nicht p s y c h i s c h zu erklären. Bei der Imago eines Insekts mit
vollkommener Verwandlung wie die Ameise ist das organische Wachsthum des Individuums bereits
f e r t i g , wenn das Thier die Puppenhülle verlässt, während das junge Säugethier nach seiner Geburt
noch Wochen, Monate oder Jahre lang w e i t e r w a c h s e n muss; daher ist es selbstverständlich, dass
die. Fertigkeit im Gebrauch der Bewegungsorgane bei einer jungen Ameise sich viel rascher entwickelt