
Line neue Beobachtung (vom 13. März 1898) zeigt ebenfalls, dass man das sinnliche Unterscheidungsvermögen
von Formica sanguinea nicht zu gering anschlagen darf. Ich nahm eine der
pratensis £ , die mit rufa als Hilfsameisen in meinem grossen saw^wmea-Beobachtungsneste (Tafel I.)
sich befinden, aus dem Neste heraus, reizte sie zur Gegenwehr, nahm sie leise zwischen die Fingerspitzen,
woselbst sie eine Giftsalve abgab und setzte sie sodann in das Obernest des Beobachtungsnestes
zurück, wo gerade etwa 20 sanguinea und 10 ru fa und pratensis (zusammen 10) sich befanden.
Die ru fa und pratensis vermochten nun die von meinen Fingern berührte und von ihrer eigenen
Ameisensäure bespritzte Gefährtin n i c h t wiederzuerkennen, wohl aber die sanguinea! Letztere sprangen
zwar anfangs auch mit geöffneten Kiefern auf das .praiewsîs-lndividuum zu, griffen es aber, nachdem
sie es mit den Fühlern berührt hatten, nicht feindlich an, sondern liefen ruhig weiter. Die m fa und
pratensis dagegen griffen es heftig an, zerrten es umher und bissen es mit eingekrümmtem Hinterleib.
Drei bis vier dieser Ameisen hielten sodann die pratensis- Arb eiterin fest und zogen an ihr langsam
nach entgegengesetzten Richtungen wie bei einer der von Forel so schön beschriebenen exécutions
à froid. Anderthalb Stunden lang wurde die Ameise auf diese Weise von den m fa und pratensis
misshandelt, und zwar nicht bloss von den sie festhaltenden, sondern auch von den neu hinzukommenden;
eine rufa Ç suchte ihr sogar das Hinterleibsstielchen durchzubeissen. Während dieser ganzen
Zeit kamen auch viele sanguinea herbei, berührten die festgehaltene Ameise sorgfältig mit den Fühlern
und b e l e c k t e n sie dann, statt sie feindlich anzugreifen; nur eine kleine sanguinea sah ich vorübergehend
an einem Beine der pratensis zerren. Eine sanguinea machte den Versuch, die pratensis, nachdem
sie dieselbe beleckt hatte, fortzutragen, was ihr aber wegen der festhaltenden m fa und pratensis
nicht gelang. Schliesslich wurde die misshandelte Ameise auch von letzteren wieder losgelassen und
nicht mehr feindlich behandelt.
Als Kontrollversuch setzte ich einige Tage später zwei pratensis £ aus einer fremden Kolonie
in das Obernest, und zwar eine nach der anderen an zwei verschiedenen Tagen. Auch diese pratensis
liess ich vorher zwischen meinen Fingerspitzen eine Giftsalve abgeben und setzte sie genau unter
denselben Umständen in das Obernest. Diese pratensis wurden jedoch von den sanguinea sofort mit
derselben Heftigkeit angegriffen wie von den m fa und pratensis. Hieraus muss man schliessen, dass
bei obigem Versuche die sanguinea mittelst ihrer Fühler den Koloniegeruch der aus ihrer eigenen g e mischten
Kolonie genommenen pratensis von dem ihr anhaftenden fremdartigen Gerüche zu unterscheiden
vermochten, während die rufa und pratensis kein so feines Unterscheidungsvermögen besassen. Mit
blossen „Chemoreflexen“ kommen wir bei F . sanguinea noch viel weniger aus als bei anderen Ameisen.
Auf ein von Herrn B. übersehenes Moment möchte ich hier nochmals aufmerksam machen,
auf die Bedeutung des Geruches der S p e i c h e ld r ü s e n s e k r e t e der Ameisen für die sogenannte
Wiedererkennung der Nestgenossen'). Schon 1892 hatte ich die Beobachtung mitgetheilt, dass die
Aufnahme von Atemeies emarginatus in den gemischten Kolonien von sanguinea-fusca wiederholt dadurch
vermittelt ward, dass die fusca den Gast zuerst beleckten, worauf er auch von den sanguinea nicht
mehr feindlich angegriffen wurde (24. S. 596; vgl. auch ibid. S. 595 und 64E>; ferner 59. S. 10),
während unter denselben Verhältnissen die Atemeies ohne jene Dazwischenkunft der fusca von den
Vgl. auch N. L u dwi g , Futtersaft oder thierische Veranlagung als der Beherrscher und Ordner geheini-
nissvoller Vorgänge im Bienenvolk. Verlag der Leipziger Bienenzeitung 1896. Ludwig betont auch für die Bienen
die hohe biologische Bedeutung des Geruches der Speicheldrüsensekrete. Bethe kann sich für seine Reflextheorie
nicht auf Ludwig, den er citirt, berufen, da letzterer gerade die rein reflektorische Erklärung des Bienenlebens durch
„Futtersaftspannung“ in jener Schrift eingehend widerlegt.
sanguinea zerrissen worden wären. Diese B e o b a c h t e n dürften wenigstens einiges Licht darüber
verbreiten, wie es möglich ist, dass in den gemischten Ameisenkolonien A n g e h ö r ig e g a n z v e r s
c h i e d e n e r S p e c i e s denselben Nestgeruch (oder Familiengeruöjj):annehmen: es geschieht dies vorz
u g sw e is e ? ! « f a * die gegenseitige Belecküng und Fütterung. Auf diese Weise begreift es sich
auch leichter, wie m den aus erwachsenen Ameisen verschiedener Arten gebildeten „Bundeskolonien“
ein- nen eV “Koloniegeruch sich ausbilden kann, der gewissermassen eine Mischung des ursprünglichen
Familiengeruches' beider Komponenten darstellt. Man vergleiche hiezu die Beobachtungen von Forel
(Fourmis d: 1. Suisse, besonders p.- | | 8-j;.und mir (2t, 8: 83 und 146—1 6 6 $ ! A l l e s erklärt auch
dieses Moment nicht, ,-z. B. wesshalb Formica sanguinea die Arbeiterpuppen fremder Formica-Arten
aufzieht, diejenigen d e r p u n d g | dagegen frisst oder sie als junge Ameisen tödtet. Alle diese Individuen
w u rd en |||ck theils als Puppen, theils als junge Ameisen, nachdem sie aus den Kokons gezogen
worden waren, von den Arbeiterinneh der betreffenden Kolonie längere Zeit b e le o k t; trotzdem
ist ihr endliches Schicksal ein ganz verschiedenes. Dass: d # Geruchsstoff der Puppen der ö" und 9
die Fresslust, (jer Ameisen stärker reize, bietet auch keine adaequate Erklärung; denn sonst müssten
d§fs«pMm»:ja auch ähre eigenen H u n d 9 Puppen regelmässig freBsen. Nach B. kann übrigens von
Fresslust bei Ameisen keine Rede sein, sondern nur von einem Fressreflex, der völlig frei ist von der
„psychischen Qüalität“ des Hungergefühls und dessen Befriedigung. In dieser Erklärung löst ein
Geruohsreflex je nach Bedürfniss des Erklärers einen Fressreflex oder einen Leekreflex oder einen
Fütterungsreflex öder irgend einen anderen Reflex ganz rein mechanisch aus. Ich kann mich einer
derartigen Erklärung mit dem besten Willen nioht anschliessen.
Prüfen wir nochmals sorgfältig den von Bethe dafür vorgebrachten „Beweis“, dass das gegenseitige
„Erkennen“ der Ameisen nicht auf sinnlicher Wahrnehmung, sondern auf einem blossen „Chemo-
reflex“ beruhe. Sein Beweis lautete: Die Reaktion auf den betreffenden Geruchsstoff, der von den
Mitgliedern der eigenen Familie ansgeht, wird von den Ameisen n i c h t e r le r n t : also beruht sie auf
einem b lo s s e n R e f l e x . Nehmen wir einstweilen1 an, der Vordersatz sei-richtig; dann fehlt trotzdem
dem Schlusssätze noch jegliche Beweiskraft, weil noch ein D r i t t e s zwischen diesen beiden
Möglichkeiten liegt: dmperbliche Instinkt mit dem entsprechenden Vermögen der sinnlichen Empfindung
und sinnlichen Wahrnehmung. Also hat Bethe mit jenem Sohlusse gar nichts bewiesen gegen die
Existenz psychischer Qualitäten bei den Ameisen.
Jetzt kommt aber erst noch die Prüfung des Vordersatzes, welcher lautete: die Reaktion der
Ameisen gegen den Geruchsstoff der eigenen Koloniegenossen ist n i c h t e r le r n t . Ist dieser Satz
überhaupt richtig?
Wenn jene Reaktion nicht e r l e r n t , d. h. durch sinnliche Erfahrung e rw o r b e n ist, so muss
sie den Ameisen a n g e b o r e n sein; ein Drittes gibt es nicht. Wir haben also zu prüfen, ob den
Ameisen einer und derselben Kolonie die friedliche Reaktion gegen den Geruchsstoff ihrer Koloniegenossen
a n g e b o r e n i s t töider n ic h t .
Angeboren kann den Ameisen nur die friedliche Reaktion gegen den bestimmten Geruchsstoff
jener Ameisen sein, mit denen sie durch A b s tam m u n g von gemeinsamen Eltern verbunden sind.
') Ich sage bloss „vorzugsweise“ und füge bei „unter normalen Verhältnissen“; denn die von Forel (F.d. 1.
Suisse p. 239 ff. und 278 ff.) und mir (21. S. 154 ff.) angestellten Schüttelexperimente zeigen, dass bei Kolonien derselben
oder sehr nahe verwandter Arten auch- durch blosses Durcheinanderschütteln der Ameisen und ihres Nestmaterials
schon ein neuer gemeinschaftlicher Nes t g e ru c h entstehen kann. Hier zeigt sich auch, dass der Ausdruck
„Nestgeruch“ manchmal passender ist als „Familiengeruch“.
Zo o lo g ic a. H e ft 26. g