
Niemanden wird es einfallen, zu behaupten, die friedliche Reaktion gegen jeden beliebigen Geruchsstoff
einer fremden Kolonie oder fremden Art sei ihnen angeboren; denn das wäre ja in offenbarem
Widerspruche mit den Beobachtungsthatsachen. Also: a n g eb o r en kann einer Ameise nur die friedliche
Reaktion gegen den Familiengeruchsstoff ihrer e i g e n e n A r t und ih r e r e i g e n e n K o lo n i e
sein, von welcher sie abstammt, nicht aber eine friedliche Reaktion gegen den Geruchsstoff fremder
Ameisenkolonien und fremder Ameisenarten, welche ja gerade an ihrem verschiedenen Geruchsstoffe
als „Feinde“ erkannt werden. Nun reagiren aber die in den Kolonien der Raubameisen aufgezogenen
Hilfsameisen f r i e d l i c h auf den Geruchsstoff der f r em d e n A r t (der sogenannten Herren in ihrer
Kolonie), f e in d l i c h dagegen auf den Geruchsstoff der e i g e n e n S c h w e s t e r n , aus deren Kolonie
sie als Puppen geraubt wurden. Also ist den Ameisen die friedliche Reaktion auf den Geruchsstoff
ihrer eigenen Koloniegenossen n i c h t a n g e b o r e n , sondern sie ist von den einzelnen Ameisen in d i v
id u e l l e rw o r b e n . Diese individuelle Erwerbung erfolgt während der Periode, wo die junge frisch
entwickelte Arbeiterin beginnt, sich zu erhärten und auszufärben. In dieser Periode entwickelt sich
erst ihr eigener bestimmter individueller Geruchsstoff, und in dieser Periode entwickelt sich auch das
Geruchsvermögen ihrer Fühler, durch welches sie den Geruchsstoff ihrer Koloniegenossen von dem
Geruchsstoffe anderer Ameisen unterscheidet. A ls o beruht das Unterscheidungsvermögen der Ameise
für „Freund“ und „Feind“ nicht auf erblichen Reflexen, sondern a u f d e r s in n l i c h e n W a h r n
e hm u n g j e n e r G e r u c h s e in d r ü c k e , w e l c h e s i e w ä h r e n d d e r e r s t e n T a g e ih r e s
Im a g o l e b e n s a ls A r b e i t e r in em p f ä n g t . Von einer Ausbildung n e u e r R e f l e x e kann in
jenen paar Tagen nicht die Rede sein. Zur Ulustrirung der Thatsäche, wann und wie die erste
Ausbildung des Koloniegeruches der Ameisen sowie des Unterscheidungsvermögens dieses Geruches
von den Gerüchen fremder Kolonien und Arten erfolgt, erinnere ich hier noch an das hübsche Experiment
Forels (Fourmis d. 1. Suisse p. 261), welcher aus frisch .entwickelten, aus verschiedenen
Kolonien genommenen g von F. exsecta, sanguinea und rufibarbis, denen er Kokons von F . pratensis,
exsecta, fu sca , rufibarbis und sanguinea gegeben, eine aus fünf Formica-Arten bestehende gemischte
Kolonie bildete. Ueberhaupt beruht die Möglichkeit der Existenz g em i s c h t e r A m e l s e n k o lo n i e n ,
sowohl der natürlichen als der künstlich erzielten, eben darauf, dass die Reaktion gegen einen bestimmten
Koloniegeruch den Ameisen nicht angeboren ist, sondern erst im Beginne ihres individuellen
Imagolebens erworben wird. Die Fälle künstlich gemischter „Bundeskolonien“, die aus völlig erwachsenen
Arbeiterinnen verschiedener Ameisenkolonien von Forel und mir (21. S. 146 f.) gebildet
wurden, beweisen überdies, dass selbst Ameisen, deren Koloniegeruch bereits vollkommen ausgebildet
ist, noch l e r n e n können, auf einen f r em d e n Koloniegeruch freundschaftlich zu reagiren. Ich nehme
hievon jene Fälle aus, wo die fremden Ameisen vorher durcheinandergeschüttelt wurden und beziehe
mich nur auf jene, bezüglich ihrer psychischen Deutung unzweifelhaften Fälle, wo die verschiedenen
Kolonien ohne jenes Manöver einander nahe gebracht worden sind. Die gegenseitige Annäherung
geschieht hier anfangs nur mit sichtlichem Widerstreben und mit häufigen Zeichen des Misstrauens, bis
die Ameisen, weil der Geselligkeitstrieb ihre Abneigung überwiegt, schliesslich sich daran gewöhnen *),
J) Bethe glaubt (S. 44) diesen Vorgang rein reflektorisch auffassen zu können „wie die Gewöhnung des
Körpers an ein Gift.“ Dieser Vergleich beweist jedoch bloss die schwierige Position, in welcher seine neue Reflextheorie
gegenüber den Thatsachen sich befindet. Sollte er wirklich beweiskräftig sein, so musste überdies gezeigt
werden, dass das tertium comparationis zutreffe, d. h. dass der Process, durch den die Ameisen auf den Familien-
geruchsstoff der Fremden freundlich zu reagiren lernen, in der That ein rein reflektorischer sei wie die Gewöhnung
des Körpers an ein Gift. Da dies nicht gezeigt wnrde, enthält jener Vergleich im Grunde nur eine petitio principii.
auch die noch etwas verschieden riechenden neuen Gefährtinnen zu belecken und zu füttern. Durch
letzteren Process wird, wie ich oben bereits ausgeführt, die Bildung des neuen gemeinschaftlichen
Koloniegeruches weiter vervollkommnet und vollendet.
Noch zahlreichere Beispiele dafür, dass die Ameisen zu l e r n e n vermögen, in Folge sinnlicher
Erfahrung, namentlich in Folge angenehmer Geschmackswahrnehmungen, auf bestimmte Geruchsstoffe
in ganz anderer Weise zu reagiren, als sie es vor jener Erfahrung gethan, bieten die in t e r n
a t io n a l e n B e z i e h u n g e n d e r e c h t e n A m e i s e n g ä s t e . Ein Fall, wo F . sanguinea lernte,
auf den einer Lomechusa anhaftenden /M%mosws-Geruchsstoff nicht mehr feindlich zu reagiren, wurde
bereits oben (S. 15) erwähnt. Es ist ferner eine unbestreitbare Thatsache, die ich durch eine Fülle
von Beobachtungen belegen kann, dass die Ameisen im Stande sind, durch sinnliche Erfahrung g a n z
n e u e G ä s t e k e n n e n zu l e r n e n , auf deren Geruchsstoff sie bei der ersten Begegnung in entschieden
feindlicher Weise reagirten. Die internationalen Beziehungen von Lomechusa (24) enthielten
bereits mehrere hioher gehörige Experimente; ich verweise insbesondere auf die Aufnahme von Lomechusa
bei F . fusca, Polyergus-fusca und F . rufibarbis. Diese Thatsachen sind B. völlig unbekannt
geblieben. Noch mehr einschlägiges Material wird in den internationalen Beziehungen der Gattungen
Atemeies und Glaviger geboten werden, für welche bereits ein viele Hunderte von Beobachtungen und
Versuchen umfassendes Material in meinen Notizbüchern vorliegt. Es ist dieses Vermögen der Ameisen,
durch sinnliche Erfahrung die Annehmlichkeit ganz neuer echter Gäste kennen zu lernen, nicht bloss
bei Formica-Arten (insbesondere F. sanguinea) vorhanden, sondern selbst bei Lasius-Arten, die doch
viel automatischer sich benehmen als jene. Dass es dabei nicht etwa um „Ausbildung neuer Reflexe“,
sondern um wirkliche sinnliche Erfahrung sich handelt, geht aus der kurzen Zeit hervor — manchmal
nur wenige Minuten in welcher die Veränderung des Benehmens der Ameisen gegenüber dem
neuen Ankömmling erfolgt.
Allseitigere Beobachtungen und Versuche führen demnach auf diesem Gebiete zu Schlussfolgerungen,
die mit einer Reflextheorie des Ameisenlebens unvereinbar sind. Die bereits vorhandene
Literatur über die Lebensweise der Ameisen und ihrer Gäste bot übrigens bereits ein ausreichendes
Material, durch welches man sich auch über die nichtreflektorische Seite jener Vorgänge einiger-
massen orientiren konnte.
Wie finden die Ameisen ihren Weg?
Dass es hauptsächlich der G e ru ch ss in n ist, durch den die Ameisen ihren Weg finden, ist
schon längst bekannt und namentlich durch Forels Versuche in seinen „Expériences et Remarques
critiques“ näher festgestellt worden. Ich sage „hauptsächlich“, weil diese Erklärung in ausschliesslicher
Form zunächst nur für jene Ameisenarten gilt, welche wie die Lasius auf ihren Ausgängen stets auf
einer ganz bestimmten, durch eine Geruchsfährte gekennzeichneten Strasse zu gehen pflegen. Unter
den Tormica-Arten sind F. rufa und pratensis jene, die sich auf ihren Exkursionen ebenfalls in auf
bestimmten Strassen gehenden Kolonnen bewegen. Aber schon hier zeigt ein ganz alltägliches Experiment,
welches ich oft gemacht habe, dass ihre Abhängigkeit von der Geruchsfährte eine weit geringere
ist, als bei den Lasius. Wird bei letzteren die Fährte dadurch unterbrochen, dass man mit
einem Holzstück oder einem anderen geruchlosen (d. h. für die Ameisen indifferent riechenden) Gegenstand
quer über ihren Weg streicht, so erfolgt plötzlich eine Stauung der Ameisen an der Strichstelle;