
Ob man letzteres Modifioirungayermögen wegen seines innigen Zusammenhanges mit den erblichen
Instinkten (dem Instinkt im engeren Sinne) als „ in s t in k t iv im w e i t e r e n S in n e “ bezeichnen
will, wie ich es vorgeschlagen,1) oder ob man ihm einen anderen Namen geben will, das ist
mir schliesslich gleichgiltig. Als „ I n t e l l i g e n z d e r T h i e r e “ darf man es jedenfalls n i c h t bezeichnen;
denn es ist mit dem Instinkte viel näher verwandt als mit der Intelligenz, da es au s der
e r b l i c h e n A n la g e d e s s in n l i c h e n E r k e n n t n i s s - u n d B e g e h r u n g s v e rm ö g e n s im Thiere
hervorgeht und nur eine Bethätigungsweise dieser Anlage darstellt, welche durch die individuellen
Sinneswahrnehmungen des Thieres veranlasst wird. Indem ich den Instinkt des Thieres (und des
Menschen) als d ie e r b l i c h e , e i g e n a r t i g e A n l a g e d e s s in n l i c h e n E r k e n n t n i s s - u n d B e g
e h r u n g s v e rm ö g e n s , d i e m it d e n e r b l i c h e n R e f l e x m e c h a n i sm e n in w e s e n t l i c h em
Z u s am m e n h ä n g e s t e h t , näher erklärte und begründete (58. Kap. 2 u. 3), war es vollkommen
berechtigt, zwischen Instinkthandlungen im e n g e r e n und im w e i t e r e n Sinne zu unterscheiden,
von denen die ersteren u n m i t t e lb a r , die letzteren dagegen d u r c h V e rm i t t lu n g d e r i n d i v i d
u e l l e n s in n l i c h e n E r f a h r u n g des Thieres aus jener Anlage hervorgehen.
Palls man die Alternative stellt, ob letztere Thätigkeiten dem „ I n s t in k t e “ oder der „ In -
t e l l i g e n z “ zuzuweisen seien, kann es nicht zweifelhaft sein, dass ersteres das einzig Richtige ist.
Gibt es noch andere Beweise für die psychischen Fähigkeiten der Ameisen?
Es dürfte eigentlich überflüssig scheinen, diese Frage hier noch zu stellen. Da ich mir jedoch
wohl bewusst bin, die psychischen Lebensäusserungen der Ameisen im Obigen bei weitem nicht
erschöpfend behandelt zu haben, sollen wenigstens noch einige Andeutungen gegeben werden.
Zu einer v o l l s t ä n d i g e n Erörterung dieses Problems würde es nöthig sein, sämmtliche
Lebensthätigkeiten der Ameisenarten durchzugehen: ihren N e s t b a u , sowohl die verschiedenen spezifischen
Formen wie die mannigfaltigen individuellen Modifikationen desselben, welche durch wechselnde
äussere Verhältnisse veranlasst und verschiedenen Bedürfnissen angepasst werden; die verschiedenen
Formen des N a h ru n g se rw e rb s, und die Abhängigkeit derselben einerseits von erblichen, organischpsychischen
Gesetzen, andererseits von der individuellen Sinneswabrnehmung und Sinneserfahrung der
einzelnen Ameisen; hieher würde gehören die Zucht der Blatt-, Schild- und Wurzelläuse sowie gewisser
exotischer Cercopiden, Membraciden und Fulgoriden, ferner gewisser theils einheimischer, theils
exotischer „Honigraupen“, welche vornehmlich zur Lepidopterenfamilie der Lycaeniden gehören; diese
Form des Nahrungserwerbes würde überleiten zur Pflege und Zucht gewisser echter Gäste aus der
Ordnung der Coleopteren, deren Exsudatorgane flüchtige aetherische Oele absondern, die den Ameisen
als angenehme Genussmittel dienen. Beim Nahrungserwerb der Ameisen wären ferner noch folgende
Themata zu behandeln: die lebendigen „Honigtöpfe“ bei Myrmecocystus-, Melophorus-, Plagiölepis- und
Camponotus-Arten; die Benutzung der myrmecophilen Pflanzen mit ihren extranuptialen Nectarien;
Reaktionen niederer Thiere sich als einfache Reflexe auffassen Hessen. Das ist nur richtig, wenn man den Begriff des
Reflexes in einer ganz unstatthaften und unzweckmässigen Weise verallgemeinert und verwässert.“ Vgl. hiezu auch
meine obigen Ausführungen (S. 8 ff. und 34 ff.) über die Kriterien der Reflexthätigkeit gegenüber dem Instinkte und
der sinnliohen Wahrnehmung.
x) 58, Kap. 2 und 3.
die Getreidevorräthe der körnersammelnden Ameisen; die Pilzgärten der pilzzüchtenden AmeisenJ) der
Gattungen, Atta, Moetterius, Sericomyrmex, Trachymyrmex und Apierostigma; endlich die Jagden der
Ameisen auf andere Thiere, die ihnen als Beute dienen. Besondere Berücksichtigung verdiente ferner
die an letztere Erscheinung sich anschliessende Sitte gewisser Raubameisen, die Arbeiterpuppen fremder
Arten zu rauben und als Hilfsameisen zu erziehen (die „sklavenhaltenden“ Ameisen). Ferner wäre
zu behandeln die ganze B r u tp f le g e der Ameisen in ihren mannigfaltigen Phasen und Formen, sowie
der Einfluss der Brutpflege auf die Erziehung sowohl der normalen Kasten in den Ameisenfamilien
wie gewisser anormaler Zwischenformen (z. B. der Pseudogynen); hieran würden sich anschliessen die
A d o p t i o n s in s t in k t e der Ameisen, durch welche sie ihre eigene Brutpflege auch auf die Brut
fremder Arten ausdehnen, und zwar nicht bloss auf diejenige fremder Ameisen, sondern auch auf die
Larven gewisser myrmekophiler Käfer (Atemeies und Lomechusa), auf die Eier von gewissen Aphiden, etc.
Weiterhin wären zu behandeln d ie B e z i e h u n g e n d e r e r w a c h s e n e n A m e is e n zu e in a n d e r ,
innerhalb derselben Kolonie, zwisohen verschiedenen Kolonien derselben Art, zwischen verschiedenen
Arten, insbesondere die mannigfaltigen Formen der S y m b i o s e zwischen Ameisen verschiedener Arten
(die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien). Dann kämen die B e z i e h u n g e n d e r
A m e is e n zu d e n v e r s c h i e d e n e n b i o lo g i s c h e n K la s s e n ih r e r g e s e t zm ä s s ig e n G e s e lls
c h a f t e r („Gäste“) aus anderen Familien, Ordnungen und Klassen der Arthropoden, sowie der An-
theil, welchen einerseits die erblichen Instinkte und andererseits die individuellen Sinneserfahrungen
der Ameisen an diesen Verhältnissen haben. Endlich müssten noch die sämmtlichen übrigen Beziehungen
der Ameisen zur Thier- und Pflanzenwelt besprochen werden.
Eine den modernen Forschungsresultaten entsprechende Behandlung der gesammten Ameisenbiologie
gäbe selbstverständlich ein Werk von mehreren Bänden. Zudem wäre mit einer blossen Zusammenstellung
der Thatsachen noch wenig gewonnen für die vergleichende Psychologie. Manchmal
sind es gerade die unscheinbarsten Thätigkeiten, welche bei näherer Prüfung die besten Beweise dafür
bieten, dass die Ameisen keine blossen Reflexmaschinen sind, während andererseits oft gerade die
auf den ersten Blick intelligenzähnlichsten ihrer Handlungen bei sorgfältiger Analyse sich zwanglos
auf einfache Instinkte zurückführen lassen.
Es seien hier noch einige Beispiele für beides erbracht. Aus den zahlreichen Versuchen,
welche ich in den letzten 14 Jahren über d ie i n d i v id u e l l e A r t u n d W e i s e angestellt, wie die
einzelnen Ameisen einer Kolonie beim Abholen von Cocons, von Futter u. s. w. sich benehmen, erwähne
ich hier nur folgende besonders charakteristische Beobachtung.
Am 26. April 1898 Abends hatte ich in die Glaskugel des Fütterungsrohres meines grossen
Beobachtungsnestes von F. sanguinea (vgl. die Abbildung auf Taf. I .), welches zur Zeit als Hilfsameisen
nur pratensis (80—100) und rufa (15—20) enthielt, 10 gr. mittelmässig fein gestossenen Zucker
gethan. Während der darauffolgenden Nacht2) war bereits eine Anzahl Ameisen, hauptsächlich
sanguinea und pratensis, damit beschäftigt, die Zuckerkrümchen einzeln aus dem Fütterungsrohr in das
Obernest hinüberzutragen. Der Haupttransport fand auf diese Weise bereits in der Nacht statt. Am
folgenden Mittag, 18 Stünden seit Beginn des Experimentes, war die ganze Arbeit vollendet und die
1) Ueber Pilzzucht bei T e rm i t e n hat kürzlich G. D. Haviland eine Reihe neuer interessanter Mittheilungen
veröffentlicht in Linn. Soc. Journ. Zool. XXVI. 1897, p. 358—442.
2) Es sei hier beiläufig bemerkt, dass bereits A r i s t o t e l e s über die Nachtarbeit der Ameisen berichtet hat:
„sie arbeiten auch Nachts bei Vollmond.“ (De Hist, animal. 1. 9. c. 38.) Ich sah die Ameisen übrigens auch in völlig
dunklen Nächten arbeiten.