
Die verschiedenen Formen des „Lernens“ hei dem Menschen nnd den Thieren.
Die Parallele, welche Bethe zwischen dem psychischen Leben der Ameisen und der höheren
Thiere gezogen hat, verdient eine besondere Berücksichtigung. Wenn wir dieselbe aufmerksam verfolgen,
ergibt sich Manches, was nicht bloss für das psychische Leben der Ameisen sondern auch
für die gesammte Thierpsychologie von Interesse ist.
F o r el1) hatte berichtet, dass es ihm gelungen sei, einen Wasserkäfer zu zähmen, und ich
hatte mitgetheilt (59 S. 88), dass es mir gelungen sei, eine wilde Ameise {Formica rußbarbis) so weit
zu zähmen, dass sie mir beim Oeffnen des Korkpfropfens am Fütterungskolben meines sanguinea-
Beobachtungsnestes (vgl. die Abbildung Taf. I.) bereits entgegen kam, auf den vorgehaltenen Finger
zuging, denselben bestieg und ruhig den Honig ableckte, den sie dort fand, worauf sie entweder in
die Oeffnung des Fütterungskolbens zurückkehrte oder sich sogar von mir mit einer Pincette am
Hinterbein aufheben und ohne Zeichen der Aufregung in das Nest zurücksetzen liess. Bethe zieht
nun (S. 28) eine Parallele zwischen einem bösen Hunde, den man in wenigen Tagen durch freundliches
Benehmen und Darreichung von Futter zu zähmen vermag, und zwischen diesen beiden Beispielen
und sagt dann bezüglich der letzteren: „solche Fälle beweisen gar nichts“ für das psychische
Leben der Insekten. Der Grund, den er hiefür angiebt, ist folgender. B. behauptet einfach, man
brauche „W o c h e n u n d M o n a t e “ zum Gelingen eines solchen Versuches bei den Insekten, bei
dem Hunde aber nur wenige Tage. Woher er diese Ueberzeugung von den „Wochen und Monaten“
geschöpft, ist mir unbekannt. Wie lange Forel brauchte, um den Schwimmkäfer zu zähmen, weiss
ich nicht. Ich habe, zwar selber wiederholt in früheren Jahren Dytiscus marginalis in Aquarien gehalten
und kann Forel’s Angabe bestätigen, dass man diese scheuen Käfer daran gewöhnen kann,
herbeizukommen und Nahrung entgegenzunehmen, wenn man ihnen nur den Finger in das Wasser
hält. Wie lange dazu nöthig ist, habe ich damals leider nicht notirt. Bezüglich der Ameisen kann
ich jedoch bestimmte Auskunft geben. Bei jener F. rußbarbis, von welcher in meinem, von Bethe
angezogenen Berichte die Rede war, hatte ich bereits in wenigen, rasch nacheinander wiederholten
Versuchen das Resultat erzielt, dass sie durch den Geruch meines Fingers sich nicht mehr in Furcht
setzen liess, sondern den Honig ruhig ableckte. Die „Wochen und Monate“ sind daher von Herrn
Bethe irrthümlich hinzugesetzt worden. Aehnliche Versuche mit demselben Beobachtungsneste habe
ich auch anderemale mit anderen Individuen angestellt, und mit demselben Erfolge und in derselben
Zähmungszeit von bloss einigen Tagen. Bei F. fusca und ncßba/rbis gelingen diese Versuche am
leichtesten und schnellsten, weil diese Ameisen sehr „findig“ 2) und zugleich sehr naschhaft sind. Die
Vorbedingung für das Gelingen des Experimentes war, dass ich mir ein bestimmtes Individuum merkte,
*) Gehirn und Seele, Bonn 1894 S. 28.
2) Für die Findigkeit von F. fusca sei hier noch folgende neue Beobachtung (Mai und Juni 1898) erwähnt.
Ich hatte das Beobachtungsnest 86 II. von F. sanguinea als Vornest mit einem Glascylinder versehen, welcher eine
zweite Oeffnung besass, durch die eine F. fusca oder eine kleinere sanguinea durchschlüpfen konnte. Während
die sanguinea meist auf der Fensterbank umherliefen und auch durch das Fenster hinausliefen und dabei vielfach in
den Garten hinabfielen, untersuchten die fusca hauptsächlich das Zimmer; eine von ihnen hatte bald auf einem Tisch
am anderen Ende des Zimmers die Stelle gefunden, wo gewöhnlich ein Glas mit Zuckerwasser stand; dort füllte sie
sich ihr Kröpfchen und kehrte dann zum Neste zurück; mehrmals fiel sie auch in das Zuckerwasser hinein und wurde
dann mit einer Pincette herausgeholt und in das Nest zurückgesetzt, ohne sich dadurch von der Wiederholung ihrer
Besuche des Zuckerwassers abhalten zu lassen.
welches besonders häufig in den Fütterungsapparat kam und dort auf den Honig wartete; verfuhr ich
dann in möinen Bewegungen sehr vorsichtig und langsam, um die Ameise nicht zu erschrecken, so
gelang es bereits in ein paar Tagen, das Thier in der angegebenen Weise zu zähmen. Mit dem
Gegenbeweis des Herren Bethe hat es somit wenig auf sich. Im Gegentheil, es besteht in diesem
Punkte eine ganz auffallende Aehnlichkeit zwischen der Zähmung des bösen Hundes und der bösen
Ameise. Vielleicht erwidert Bethe hierauf, die Zähmung der betreffenden Ameise sei bereits durch
die Gewohnheit derselben, in den Fütterungsapparat zu kommen und dort auf den Honig zu warten,
seit längerer Zeit vorbereitet worden; man müsse daher die Gesammtdauer der Zähmungszeit von
dem Zeitpunkte an bemessen, wo die betreffende Ameise zuerst in das Beobachtungsnest gebracht
worden sei. Dann muss aber auch die Zähmungsdauer des bösen Hundes von dem Augenblicke an
bemessen werden, wo er aus seiner wilden Existenz eingebracht wurde. Herr Bethe muss daher
keinen „canis familiaris“ zu seinem Versuche wählen, sondern irgend ein Individuum einer w ild e n
Hundeart; dann wollen wir ausrechnen, wer länger gebraucht habe zu seinem Zähmungsversuche, ob
er mit seinem wilden Hunde oder ich mit meiner wilden Ameise!
Weiterhin sagt Bethe am Schlüsse seiner Ameisenstudie (S. 69) Folgendes. „Wie Wasmann
im Ernst behaupten kann, dass k e in e U n t e r s c h i e d e zwischen den Lebensthätigkeiten der Ameisen,
Bienen u. s. w. und denen der höheren Säuger und der Vögel beständen, ist mir ganz unverständlich.
D ie A m e i s e b r in g t A l l e s , w a s s i e im L e b e n t h u t , a ls a n g e b o r e n m it zu r W e l t ,
d e r H u n d u n d d e r A f f e m ü s s e n A l l e s e r s t l e r n e n , g e n a u w ie d e r M en s ch . S i e le rn en
g e h e n , s i e l e r n e n f r e s s e n , u n d s i e l e r n e n u n t e r A n l e i t u n g d e s M e n s c h e n o ft d ie
k o m p l i z i r t e s t e n H a n d lu n g e n . W a s a b e r v o n A llem am w i c h t ig s t e n i s t , s i e v e r m
ö g en s e lb s t ä n d i g u n d o h n e B e l e h r u n g a u s u n z w e i f e lh a f t e n E r f a h r u n g e n h e r a u s
ih r H a n d e ln zu m o d i f i c i r e n . D i e s s o l l W a sm a n n v o n d e n A m e is e n n a c h w e i s e n ,
e s w ird ihm n i c h t g e l i n g e n ! “
Ich habe hierauf Folgendes zu erwidern. E r s t e n s . Die mir zugeschriebene Behauptung,
dass zwischen den Leb ensthätigk eiten der Ameisen und der höheren Säugethiere k e in e U n t e r s c h ie d e
beständen, beruht auf einem Irrthum. B. citirt zwar meine diesbezüglichen früheren Schriften (58 u. 59)
in seinem Literaturverzeichnisse; er scheint sie jedoch nur flüchtig durchblättert zu haben. Ich brauche
hiefür nur folgende Stelle (59 S. 119) anzuführen, wo meine Ansicht über das Seelenleben der Ameisen
und der höheren Thiere vergleichend zusammengefasst wurde: „In den unteren Thierkreisen überwiegt
im allgemeinen die automatische Seite des Instinktes ganz bedeutend, während bei den höheren Thieren
die plastische Seite durchschnittlich mehr in den Vordergrund tritt. A u c h b e i d en A m e is e n g e h t
d i e e r b l i c h e D e t e rm in a t io n zu b e s t im m t e n T h ä t ig k e i t e n w e it e r a ls b e i d en H u n d e n
u n d A ffe n ; der variirende Einfluss, den die individuelle Sinneserkenntniss auf die Bethätigung der
erblichen Instinkte ausübt, i s t b e i d en l e t z t e n g r ö s s e r und m a n n ig f a l t ig e r a ls b e i d en
e r s t e r e n : insofern gleicht das Seelenleben der Ameisen mehr einem „Automatismus“ als dasjenige
der Säugethiere. Andererseits ist jedoch auch bei den Ameisen die plastische Seite des Instinktes
vielfach hoch entwickelt, und sie äussert sich nicht selten in einer in t e l l i g e n z ä h n l i c h e r e n
F o rm als selbst bei den höchsten Wirbelthieren.“
Z w e i t e n s . Die Behauptung Bethe’s, dass die Ameise durch sinnliche Erfahrung n ic h t s
zu lernen vermöge, sondern A l l e s , was sie im Leben thut, angeboren mit zur Welt bringe, steht
mit zahlreichen Thatsachen des Ameisenlebens im Widerspruch und muss daher als u n r ic h t ig bezeichnet
werden. Die betreffenden Thatsachen hätten Bethe wenigstens zum Theile bereits aus früheren