
des Käfers die angenehme Erfahrung machen, dass es hier etwas zu lecken gibt, verwandelt? sieb oft
schon innerhalb weniger Minuten ihr feindseliges Verfahren in ein friedliches. Sig reagiren fortan auf
die Geruchs- und Gesichtswahrnehmung des neuen Gastes nicht mehr feindlich, sondern pflegen und
füttern ihn sogar. Selbst andere, später hinzugesetzte Individuen derselben Käferart werden dann
vielfach u n m i t t e lb a r aufgenommen, selbst wenn sie mit einem fremden Ameisengeruch in ihr
Nest kommen. Es ist diese Erscheinung nur daraus erklärlich, d a s s s ic h in F o l g e d e r an dem
e r s t e n I n d iv id u u m g em a c h t e n a n g e n e h m e n E r f a h r u n g e n e in e n e u e s in n l i c h e A s s o c
i a t io n g e b i l d e t h a t , vermöge welcher bereits der erste Eindruck, den der zweite Käfer auf sie
macht, ein ganz verschiedener ist von demjenigen, welchen der erste Käfer bei der ersten Begegnung
auf sie gemacht hatte. Nach der modernen Definition der Thierintelligenz müsste man sonach den
Ameisen unbedingt „ I n t e l l i g e n z “ zuerkennen, allerdings nur durch einen Missbrauch dieses Wortes.
Weiterhin gehört in dieselbe zweite Klasse von biologischen Erscheinungen auch die oben^
erwähnte Thatsache, dass die Formica sanguinea meines Beobachtungsnestes ihren früher in normaler
Weise indifferent geduldeten Gast Finarda dentata feindlich anzugreifen, zu fangen und zu’.tödten
l e r n t e n infolge der Erfahrungen, welche sie an einer nahe verwandten, ein wenig grösseren Rasse
von Finarda (D. Maerlceli) gemacht hatten.1) Hier kommt jedoch zu dem völlig selbständigen Lernen
des Individuums noch ein einflussreiches neues psychisches Element hinzu, nämlich d ie A n r e g u n g
d e s N a c h a h m u n g s t r i e b e s , welche von einer oder wenigen einzelnen Ameisen ausgehend auf
andere Individuen derselben Kolonie sich ausdehnt uud sie zu demselben Benehmen gegenüber dem
betreffenden Gaste veranlasst. Das „Lernen“ infolge der instinktiven Nachahmung des Verhaltens
anderer Wesen wird in einem eigenen Abschnitte als v i e r t e Form des Lernens behandelt werden.
Daher sei hier nur bemerkt, dass wir bei dem Vorgänge, wie die Ameisen jenes Nestes „ l e r n t e n “,
die Finarda zu verfolgen, ein d o p p e l t e s psychisches Element unterscheiden müssen:
a) D i e s e l b s t ä n d i g e in d i v id u e l l e E r f a h r u n g d e r e i n z e l n e n A m e is e .
b) D ie s in n l i c h e W a h r n e h m u n g d e s B e n e h m e n s a n d e r e r G e f ä h r t in n e n u n d
d ie in s t in k t i v e N a c h a hm u n g d e s s e lb e n .
Die nämlichen zwei Elemente finden wir auch in den psychischen Lebensäusserungen mancher
höherer Thiere, z. B. der Hunde wieder. Ein Jagdhund kann durch seine eigene sinnliche Erfahrung
ein neues Wild „kennen lernen“ und verfolgt dasselbe später mit besonderem Eifer, sobald-er nur
auf die Geruchsfährte dieses Wildes stösst. Ein anderer Jagdhund, der das Benehmen des enteren
bemerkt und instinktiv nachahmt, kann dadurch auf die Verfolgung desselben Wildes gelenkt werden,
das er sonst vielleicht nicht verfolgt hätte.
Für die in d i v id u e l l e G e s c h i c k l i c h k e i t , welche manche Ameisen jener gemischten
Kolonie bei ihrem Finarda-Fang sich erwarben, ist a das massgebende Element, während b hier
zurücktritt. Die einzelnen Ameisen mussten selber die wiederholte zufällige Erfahrung machen, dass
eine Finarda von hinten nicht erwischt werden könne, wohl aber von der Seite oder von vorne, indem
sie mit einem plötzlichen Sprunge einen Fühler oder ein Bein des Käfers zu erhaschen suchen.
Durch diese Erfahrungen ist es erklärlich, dass eine Ameise, wie ich wiederholt beobachtete, zu einem
Sprunge auf den Käfer sich einige Sekunden lang gleichsam duckte und dann in der angegebenen
Weise plötzlich auf ihn losfuhr. In ähnlicher Weise vermögen auch die Katzen und andere höhere
Raubthiere ihre instinktive Geschicklichkeit im Fange der Beute durch sinnliche Erfahrung zu ver*)
°hen S. 84 u. 42.
vollkommnen. Wie bei den Ameisen so wird auch bei ihnen ohne Zweifel überdies eine r e f l e k t
o r i s c h e Vervollkommnung der Fangbewegungen durch die wiederholte Uebung erworben; aber bei
den Ameisen wie bei jenen höheren Thieren steht diese Vervollkommnung u n t e r d e r L e i t u n g des
s in n l i c h e n W a h r n e h m u n g s v e rm ö g e n s d e s T h i e r e s und w ir d d u r c h d ie fr ü h e r g e m
a c h t e n s in n l i c h e n E r f a h r u n g e n w e s e n t l i c h u n t e r s t ü t z t .
Die unter erwähnte Form des „Lernens“ der Thiere ist befriedigend erklärlich aus ihrem
s in n l i c h e n E r k e n n t n i s s - u n d S ir e b e v e rm ö g e n iL e s handelt sich hier bloss um eine durch
wiederholte sinnliche Erfahrung gebildete n e u e A s s o c i a t i o n s in n l i c h e r V o r s t e l lu n g e n u nd
T r i e b e . 1) Ein w i r k l i c h e s 8 c j » |u s s v e rm ö g e n , also eine I n t e llig e n z im eigentlichen Sinne
des Wortes, b ra u ch en wir zur Erklärung dieser Erscheinungen nicht anzunehmen; daher dürfen
wir es auch nicht. Denn wir müssen streng festhalten an dem folgenden Fundamentalsatz einer
kritisohen Naturforschung.: man darf keine h ö h e r e n Faktoren zur Erklärung der betreffenden Thatsachen
herbeiziehen, wenn e i n f a c h e r e , g l i e d e r e Faktoren g e n ü g e n . Sonst sind wir der kritiklosen
Vermenschlichung'des Thierlebens unrettbar ausgeliefert.
Ein das Thierleben willkürlich vermenschlichender Beobachter könnte allerdings leicht geneigt
sein, der Ameise, welche-leinem ne®en, ihr früher g h ek a n n ten echten Gast (z. B. Atemeies) aufnimmt,
folgendes logische Schlussverfahren unterzulegen: Dieser von mir anfangs für ein blosses Beutethier
gehaltene Käfer ist ja ganz angenehm zu belecken; zudem benimmt er s icÄ n anständiger Weise
wie eine freundliche. Ameise und betrillert mich mit seinen Fühlern; desshalb will ich ihn als ein
angenehmes Hausthier behandeln und in meine Gesellschaft aufnehmen. Ebenso könnte ein ober-
fÄ Ü c h e r Beobachter den Ameisen beisährem DmarAi-Fang den intelligenten Schluss unterschieben:
Diese Kerle, die ich bisher ijfgig geduldet habe, lassen sich also doch Derwischen, wenn man es nur
geschickt anzustellen weiss; zudem schmeckt ihr Fleisch ganz vorzüglich; desshalb ziehe ich es vor,
, ||e zu fangen und zu fressen, anstatt sie zu dulden wie ich bisher getban H Das waren in der That
ganz lächerliche Vermen|||lichungen des Thierlebens, weil eine derartige Erklärung in den betreffenden
Thatsachen keine Begründung Bndet. Wenn man dagegen auf Grund derselben Thatsachen den Ameisen
das Vermögen .zuschreibt, d u r ch s e lb s t ä n d i g e s in n l i c h e E r fa h r u n g n e u s t A s s o c i a t io n e n
zu b ild e n 1111 du) » d u r c h zu l e r n e n , so vermenschlicht man das Thierleben n ic h t ; denn diese
Erklärung wird eben von den Thatsachen g e f o r d e r t . Wir nehmen die psychischen Faktoren nur
isso weit zu Hilfe als es nöthig ist, weiter nicht.
Sowohl die Ameisen wie die höheren Thiere besitzen das Vermögen, durch selbständige
sinnliche Erfahrung Manches zu „ le r n e n “, was über ihre angeborenen Instinkte hinausgeht. Ich
gebe auch gerne zu, dass dieses Vermögen bei den höchsten Säugethieren ein weiteres und allseitigeres
ist als bei den Ameisen: Aber sie desshalb zii i n t e l l i g e n t e n W e s e n zu erheben und ihr Lernen
als einen Beweis e in e r w i r k l i c h e n , m e n s c h e n ä h n l i c h e n I n t e l l i g e n z auszügeben, das wäre
auch bei den höheren Thieren e in e w i l lk ü r l i c h e V e rm e n s c h li c h u n g d e s T h i e r l e b e n s .
Auch das selbständige, auf sinnlicher Erfahrung beruhende Lernen der höheren Thiere lässt sich
au s d e r s e lb e n B a s i s d e r s in n lic h e n V o r s t e l lu n g s a s s ö o ia t i o n erklären wie bei den Ameisen.
j Dieses Assocjationsvermögen bezeiohnete m * Ä i i r als s i n n 1 i c h e e 6 e d ä c h t n i s s Jnemoria sensitiva).
Man kann daher den Thieren ein sinnliches Gedächtnis: zuschreiben, ohne ihnen Intelligenz zuzusclireiben. Durch die
Vernachlässigung dieser wichtigen Unterscheidung ist die moderne Thierpsychologie zu ihrer Annahme einer „Thier-
intelligenz“ gelangt.