
zwischen den verschiedenen Formen des „Lernens“ nach den Gesetzen einer kritischen Psychologie
sorgfältig unterscheidet. Wer diese Unterscheidung ablehnt unter dem Vorwande, ein Naturforscher
könne über die inneren psychischen Yorgänge „nichts wissen“ , der verschliesst sich selber die Möglichkeit,
die Thatsachen vernünftig zu erklären.
Denselben scheinbaren Widerspruch finden wir ebenfalls in der Handlungsweise der höheren
Thiere: einerseits vermögen sie durch selbständige sinnliche Erfahrung zu lernen, andererseits nicht.
Auch hier lässt sich dieser Widerspruch in ähnlicher Weise lösen wie bei den Ameisen. Die höheren
Thiere können ebenfalls, und zwar in noch allseitigerer Weise als die Ameisen, durch ihre sinnliche
Erfahrung insoweit l e r n e n , als blosse sinnliche Vorstellungsassociation (sinnliches Gedächtniss) hiezu
erforderlich sind; weiter geht jedoch bei ihnen die Fähigkeit des „selbständigen Lernens“ nicht.1)
Ein Hund mag noch so oft gesehen haben, dass Kinder einen Schemel herbeiholen, um auf demselben
zu einer Thürklinke zu gelangen, die sie sonst nicht erreichen können; er mag ferner noch so oft die
Erfahrung gemacht haben, dass er sonst die Thürklinke, welche er öffnen möchte, nicht zu erreichen
im Stande ist: trotzdem wird er nie dazu kommen, aus eigenem Antriebe einen Schemel herbeizuholen,
um leichter zur Klinke der Thüre zu gelangen. Es fehlt ihm das Vermögen, diesen so einfachen
Schluss zu bilden, weil ihm die Einsicht in die Beziehung von Ursache und Wirkung, d. h.
die In t e i l i g e n z. fehlt. Ebenso verhält es sich auch mit dem Gebrauche von Werkzeugen bei den
freilebenden höheren Thieren. Reisende haben zwar vielfach berichtet, die Affen brächen zur Verteidigun
g manchmal Baumäste ab, oder sie rollten Steine absichtlich auf ihre Verfolger hinab. Pechuel-
Loesche, sicher ein unverdächtiger Zeuge, hat diese Angaben auf Grund seiner sorgfältigen Beobachtungen
für ir r th ü m l ic h erklärt.2) Von einer auf den Bäumen fliehenden Affenschaar werden
oft zufällig Baumäste oder Früchte abgebrochen und fallen dabei auf die Verfolger; ebenso löst eine
Heerde Paviane beim stürmischen Angriff oder bei der Flucht vor einem Feinde häufig Steine los,
welche den Abhang hinabrollen. Aus derartigen Vorkommnissen hat sich nach Pechuel-Loesche die
populäre Ansicht gebildet, dass die Affen Baumäste oder Steine als Werkzeuge zur Verteidigung
benützten. Thatsachen, welche dies wirklich beweisen, existiren nicht. Und doch läge für hoch-
organisirte S äu g e tie r e , wenn sie neben dem sinnlichen Erkenntnissvermögen auch ein bischen wirkliche
Intelligenz besässen, nichts näher, als aus ihren sinnlichen Erfahrungen selbständig den Schluss
zu ziehen: „Baumäste und Steine können mir zur Verteidigung als Werkzeuge dienen,“ Dass die
Affen trotzdem bisher diesen Schluss nicht gezogen haben, dürfte einen sicheren Beweis gegen die
Eine Bei he neuer Beobachtungen und Versuche über die psychischen Fähigkeiten der höherön Thiere
bietet E. L. Thorndike in der New York Ac. Sc. (nach Science 1898, n. ser. Vol. VII. p. 179). Das Ergebniss derselben
stimmt vollkommen überein mit meinen obigen Darlegungen, welche bereits niedergeschrieben waren, bevor ich
diese Studie Thorndikes kannte. Seine Versuche wurden angestellt mit Hühnchen, Eatzen, Hunden und Affen. Die
Versuchsapparate waren so eingerichtet, dass die Thiere bestimmte Kunstgriffe lernen mussten, um z. B. eine Thüre
ihres Käfigs zu öffnen. Hiebei zeigte sich, dass der betreffend^ Griff von dem Thiere zum erstenmal r e i n z u f
ä l l i g ausgeführt werden musste, bevor es ihn sich aneignete. Von einer rationellen Ueberlégung des Thieres war
keine Spur zu bemerken. Auch nützte es nichts, dass das Thier denselben Kunstgriff bei einem anderen Thiere bereits
hundertmal gesehen hatte, oder dass man es zur Ausführung desselben mit der Hand anleitete: es begriff trotzdem
den Zusammenhang desselben mit dem Oeffnen der Thüre nicht. Die Versuchsthiere vermochten über die obenerwähnte
zweite Form des selbstständigen Lernens sich nicht zu erheben. Ein Referent in der „Naturwissenschaft!.
Rundschau“ (1898 n. 21. S. 272) meint, jene Versuche Thorndikes sprächen für einen „sehr geringen Grad von Intelligenz“
bei den Versuchsthieren. In Wirklichkeit sprechen sie jedoch' gegen die Annahme jeglicher Thierintelligenz.
Wenn die Hunde und Affen dieselbe nicht besitzen, wo will man sie dann noch suchen?
2) Brehms Thierleben, 3. Auflage, I. Band. S. 50.
Intelligenz der höheren Thiere bieten. Nur dadurch, dass man mit dem Worte „Intelligenz“ durchaus
unklare Begriffe verbindet und desshalb jede auf sinnlicher Erfahrung des Thieres beruhende Modifikation
der instinktiven Handlungsweise des Thieres für intelligent ausgibt, lässt sich die Annahme
einer „Thierintelligenz“ begründen. Ich vermag mich dieser Begriffsverwechslung nicht anzuschliessen,
weder bezüglich der Ameisen noch bezüglich der höheren Thiere.
Wir müssen also genau unterscheiden zwischen den unter 2 und 3 erwähnten Formen des
auf selbständiger sinnlicher Erfahrung beruhenden „ L e r n e n s “. Soweit die durch jene Erfahrungen
u n m i t t e lb a r gebildeten neuen sinnlichen Vorstellungsassociationen zur Modificirung der Handlungsweise
des Thieres genügen, s o w e i t v e rm a g e s s e lb s t ä n d i g zu l e r n e n ; soweit jedoch i n t
e l l i g e n t e S c h lü s s e von früheren auf neue Verhältnisse zur Modificirung der Handlungsweise erforderlich
sind, so w e i t v e rm a g d a s T h ie r s e lb s t ä n d i g n i c h t s zu le r n e n . Nur durch
diese wohlbegründete Unterscheidung dürfte es möglich seih, den scheinbaren Widerspruch zu lösen,
der uns zwischen dem „Lernenkönnen“ und „Nicht-Lernenkönnen“ der Thiere entgegentritt.
Die drei bisher angeführten Formen des Lernens bezogen sich auf d as s e lb s t ä n d i g e
L e r n e n d e s I n d iv id u u m s , erstens durch die instinktive Einübung eines erblichen Reflexmechanismus;
zweitens durch die sinnliche Erfahrung infolge der hiebei unmittelbar sich bildenden neuen Vorstellungsassociationen;
drittens durch sinnliche Erfahrung u n d intelligente Schlussfolgerung von früheren
Erfahrungen auf neue Verhältnisse. Die nun folgenden drei Formen des Lernens beziehen sich auf
d a s L e r n e n d u r ch d e n E in f lu s s a n d e r e r I n d iv id u e n .
4. Die v i e r t e Form des Lernens ist das L e r n e n d u r ch in s t in k t i v e N a c h a hm u n g
d e s B e n e h m e n s a n d e r e r W e s e n , mit denen der Lernende verkehrt. Diese Form des Lernens
ist zugleich die unterste Stufe des L e r n e n s d u r ch d en E in f lu s s a n d e r e r I n d iv id u e n . Wie
die erste Form des selbständigen Lernens sich innig anschliesst an reflektorische Vorgänge und von
denselben zu den eigentlichen psychischen Thätigkeiten überleitet, so auch hier bei der untersten Form
des Lernens durch andere. Sogar beim Menschen kann man dies sehen. Wenn in einer Gesellschaft
E in e r gähnt, gähnen auch Andere, die es sehen, „unwillkürlich“, man darf wohl sagen „reflektorisch“
mit. Die Gesichtswahrnehmung der Gähnbewegungen des ersten Individuums löst bei den anderen
unmittelbar, ohne weitere Betheiligung psychischer Faktoren, einen Gähnreflex aus. Aehnlich dürfte
es sich auch bei den Thieren verhalten mit der einfachen, durch sinnliche Wahrnehmung angeregten
instinktiven Nachahmung des Benehmens ihrer Genossen. Das psychische Element der Sinneswahrnehmung
ist hier gleichsam nur d a s a u s l ö s e n d e M om en t für die Nachahmung der betreffenden
Thätigkeit, ohne dass man dieser Nachahmung irgend eine „Absicht“ unterschieben dürfte. Je
weniger die betreffende Thätigkeit, welche nachgeahmt wird, in sich selber rein reflektorisch (wie
z. B. das Gähnen) ist, in umso umfangreicherem Maasse treten die psychischen Elemente in die Nachahmung
ein, so dass man erst dann mit Recht von einem „Lernen durch Nachahmung“ sprechen darf.
Hierher gehören bei den Ameisen eine ganze Reihe von biologischen Thatsachen. Bei der
Dinarda-V e r fo lg u n g in meinen Beobachtungsnestern habe ich den Einfluss der Nachahmung häufig
konstatiren können ■), namentlich in der obenerwähnten, in einem grossen Beobachtungsneste (Taf. I)
gehaltenen gemischten Kolonie von Formica sanguinea mit vier Sklavenarten. Manchmal war es eine
der als Hilfsameisen anwesenden rufibarbis, die auf eine neu erschienene Dinarda zuerst aufmerksam
wurde, sie zu verfolgen begann und dadurch auch andere Individuen derselben Kolonie, Herren oder
*) Vgl. hiezu auch die bereits früher (59 S. 38) mitgetheilten Beobachtungen.