
zu der Lichtquelle (Fenster) sich veränderte. In jenen Fällen dagegen, wo die Ameisen die Drehung
nicht mitgemacht hatten, wage ich nicht zu entscheiden, ob sie in Folge einer Gesichtswahrnehmung die
stattgehabte Richtungsänderung bemerkten oder durch andere, uns unbekannte Ursachen.
Wir sind daher von einer a l l g em e in e n Lösung der Frage „w ie f in d e n d ie A m e is e n
ih r e n W e g ? “ noch viel weiter entfernt, als man bei flüchtiger Betrachtung vielleicht glauben könnte.
Können die Ameisen sehen?
Die Gründe, welche Bethe dafür angeführt, dass wir den Ameisen keinen G e r u c h s s in n
zuschreiben dürfen, sondern blosse C h em o r e f l e x e , haben sich hei Erörterung der Frage, wie die
Lasius ihren Weg finden, als hinfällig erwiesen. Die Frage, ob die Ameisen s e h e n können, hat er
nicht behandelt, sondern nur imYorübergehen von möglichen „ P h o t o r e f l e x e n “ derselben gesprochen.
Um auch nach dieser Seite hin ein der Wirklichkeit entsprechendes Bild von den psychischen Fähigkeiten
der Ameisen zu bieten, will ich hier die Gründe zusammenstellen und durch neue Beobachtungen
stützen, welche zeigen, dass wenigstens vielen Ameisenarten ein keineswegs zu unterschätzendes
S e h v e rm ö g e n zukommt. Bezüglich der verschiedenen Zahl der Facetten an den Netzaugen verschiedener
Arten und verschiedener Kasten derselben Art verweise ich hauptsächlich auf Forel’s diesbezügliche
Untersuchungen (Fourmis d. 1. Suisse p. 117). Ich setze ferner als bekannt voraus, dass innerhalb
derselben Art bei den cf und 9, namentlich bei den ersteren, die Facettenaugen und mit ihnen
der Gesichtssinn besser entwickelt sind als bei den £ . Forel hat ferner bereits auf die auch von mir
bestätigt gefundene interessante Thatsache aufmerksam gemacht, dass bei den cf der Ameisen das
Gehirn relativ viel schwächer entwickelt ist als bei den £ , während umgekehrt der Sehnerv, entsprechend
der besseren Entwicklung des Auges, bei den cf viel mächtiger ist als bei den . Wozu
haben die Ameisen überhaupt ein nervöses Centralorgan, wenn sie, wie Bethe vorgibt, blosse Reflexmaschinen
ohne Empfindung und Wahrnehmung sind?
Forel hat auch das Sehvermögen der Insekten in seinen E x p é r i e n c e s e t R em a r q u e s
c r i t iq u e s ausdrücklich nachgewiesen und über die Eigenthümlichkeiten desselben sich in einer Weise
ausgesprochen, welche ich auf Grund meiner eigenen Beobachtungen und Versuche im wesentlichen
durchaus bestätigen kann. Man sollte es daher eigentlich für überflüssig halten, noch einen Beweis
dafür zu verlangen, dass Thiere, deren Augen ein komplizirtes optisches Sehwerkzeug bilden und deren
Sehnerv mit einem Gehirn von der Entwicklung des Gehirns der Ameisen verbunden ist, wirklich zu
s e h e n vermögen. Den ultraskeptischen Einwendungen Bethe’s , der in den angeblichen Gesichtswahrnehmungen
der Ameisen blosse Photoreflexe sehen will, kommt, da sie auf einem Fehlschluss —
„nicht erlernt, also bloss reflex“ — beruhen, ohnehin auch hier keine weitere Beweiskraft zu. Es
bedürfte dafür ganz anderer Gründe, um die Thatsächlichkeit der Gesichtswahrnehmung der Ameisen
zu leugnen und dieselben zu empfindungslosen Reflexmaschinen zu machen. Da jedoch das schöne
Wort „ R e f l e x “ für Manche einen bestechenden Schein der Wissenschaftlichkeit hat, will ich hier
nochmals auf die Frage eingehen: k ö n n e n d ie A m e i s e n w i r k li c h s e h e n , o d e r r e a g i r e n s ie
r e in r e f l e k t o r i s c h a u f s o g e n a n n t e G e s i c h t s e in d r ü c k e ?
Wenn man ein Beobachtungsnest von Formica sa/nguinea, rufa oder pratensis unter einer
Glasglocke oder in einem oben verschlossenen Glasgefäss einrichtet, in welchem das Licht frei auf
die Nestoberfläche fällt; oder wenn man, wie auf Taf. I. die verkleinerte ( 1 : 4 ) Abbildung eines
saM^wwa-Beobaohtllhgsnestest1) zeigt, ein für gewöhnlich bedeokt gehaltenes flaches Glasnest mit einem
oder mehreren vom Lichte erhellten Glasgefässen verbindet, -welche für die Ameisen die freie Umgebung
ihres Nestes darstellen, so kann man -wahrnehmen, dass sie anfangs sehr empfindlich sind für
die durch Glaswände zu ihnen gelangenden Gesichtseindrüoke. Man braucht bloss den Finger auf
einige Centimeter Entfernung von dem Glasgefässe hin- und herzubewegen, und zwar an irgend einer
S e ip des Gefässes, nioht etwa bloss zwischen dem Fenster und dem Glasgefäss: sofort springen
einzelne sanguinea. auf jene Stelle der Glaswand los, durch welche sie den Finger sehen und versuchen
hineinzubeissen. Die rufa und pratensis dagegen stellen Bich auf die Hinterbeine und kehren mit
drohend geöffneten Kiefern ihre Hinterleibsspitze gegen den sich bewegenden Finger, als ob sie eine
Giftsalve gegen denselben abgeben wollten. Wenn nun die Ameisen blosse Reflexmaschinen wären,
die ohne eine Spur von sinnlicher Wahrnehmung zn besitzen, durch blosse Photoreflexe zu jenen Ver-
theidigungsbewegungen gezwungen, würden, bo m ü s s t e n d i e A m e i s e n a u f d i e W i e d e r h
o lu n g j e n e s G e s i c h t s e in d r n c k e B s t e t s in d e r s e l b e n W e i s e r e a g i r e n , s o la n g e
b i s d i e p h y s i o l o g i s c h e L e i s t u n g s f ä h i g k e i t d e r b e t r e f f e n d e n R e f l e x b a h n e n
e r s c h ö p f t i s f t Was geschieht aber in Wirklichkeit? Macht man das Fingermanöver mehrmals
nacheinander,'mit einer Unterbrechung von wenigen Sekunden, so b l e i b t e s b e i Formica sanguinea
m e i s t s c h o n b e im d r i t t e n o d e r v i e r t e n m a l w i r k u n g s l o s ; einige Ameisen öffnen
wohl nooh drohend ihre Kiefer, aber sie kommen nicht her, um in den Finger zn beissen, und auch
diese „Drohreflexe“ bleiben bei Wiederholung, des Yersnches bald aus. Auf fo rm ica rufa und pratensis
bleibt das Fingermanöver länger wirksam; diese Ameisen reagiren überhaupt auf äussere Eindrücke
viel gleichförmiger j|h d konstanter als F. sanguinea. Aber auch bei rufa und p ra te n s iswird
die Wirkung des Experimentes bereits nach den ersten Versuchen sichtlich schwächer; wenn man es
mehrmals rasoh nacheinander wiederholt, kümmern auch sie sich immer weniger oder gar nicht mehr
darum; man muss dann einige Zeit warten, bis es wieder gelingt.
Wie sind diese Erscheinungen zu erklären? Man müsste den herkömmlichen Begriff der
Reflexbewegung in sein Gegentheil verkehren, wenn man behaupten wollte, diese Thatsaohen seien
durch b l o s s e R e f l e x e erklärlich. Die sanguinea, welche auf den Feind loszugehen und ihn zu
beissen gewohnt sind, nehmen, wenn sie auf den hinter der Glaswand sich bewegenden Finger sich
stürzen, sofort wahr, dass irgend etwas Undurchdringliches zwischen ihnen und dem sich bewegenden
Gegenstände ist. Wenn sie diese Erfahrung einigemal gemacht haben, werden sie gleichgiltig gegen
das Fingermanöver, das sie anfangs in so grosse Aufregung versetzte. Wir müssen also sagen:
Formica sanguinea l e r n t d u r c h s i n n l i o h e E r f a h r u n g d i e H a r m l o s i g k e i t j e n e s
M a n ö v e r s k e n n e n , u n d d e s s h a lb w i r d s i e g l e i c h g ü l t i g g e g e n d a s s e l b e . Was
sie zunächst erfährt, ist die Erfolglosigkeit des Versuches, den sich bewegenden Gegenstand zu fassen;
sie stösst bei diesem Versuche auf einen anderen Gegenstand, den sie nicht beissen kann und der
völlig indifferent rieoht. Hat sie diese Erfahrung mehrmals gemacht, so ist der sich hinter dem Glase
bewegende Finger für sie ein völlig gleichgiltiges Ding, obwohl er auf ihr Gesichtsorgan g en a u d en -
v 1 ■’) Es ist das in den letztjährigen Arbeiten -mehrfach erwähnte Beobachtungsnest mit einer gemischten Kolonie
von F. sanguinea und mehreren Sklavenarten, das ioh bereits seit 6 Jahren im Zimmer halte. Hilfsameisen
waren ursprünglich F. fusca, später gab ich (durch Arbeiteroocons) Arbeiterinnen von F. fusca, rufibarbis, rufa, pratensis
dazu. Gegenwärtig (Frühling 1898) sind als Hilfsameisen bloss noch rufa und pratensis da, indem die letzten
fusca und rufibarbis im vorigen Winter starben. — Mit schwarzem Tuch bedeokt sind das Haupt - und das Ne b en nest
; Yor ne st , Obe rn es t , Abfal lneBt und F ü t t e r u n g s r o h r sind vom Lichte erhellte Glasapparate.