
Fütterungsrohr keine Abfälle mehr zu tragen, sondern dieselben regelmässig in das Abfallnest zu
schaffen; ersteres behandelten sie fortan ausschliesslich als Fütterungsapparat. Waren neue Hilfsameisen
in dem Neste aufgezogen worden, b o kam es manchmal vor, dass dieselben anfangs einige Abfälle in
das Fütterungsrohr schleppten; aber bald wurden dieselben von anderen wieder fortgeschafft und in
das Abfallnest hinüberbefördert. Nur wenn ich iden Glaskolben des Fütterungsrohres einige Zeit völlig
leer gelassen hatte, brachten sie gelegentlich auch in das betreffende Glasrohr einige Abfälle; sobald
aber wieder Honig oder Zucker in dem Glaskolben erschienen war, wurden die Abfälle aus der Röhre
wieder entfernt, obwohl dieselbe weit genug war und der Verkehr durch jene vereinzelten Ameisenköpfe
oder Rümpfe nicht gehindert worden wäre.
Ich hatte somit den angeborenen Reinlichkeitstrieb der Ameisen dazu benützt, um sie dazu
anzuleiten, dass sie mittelst ihrer sinnlichen Wahrnehmungen den Unterschied zwischen dem Abfallnest
und dem Fütterungsrohr selber kennen lernten und das Fütterungsrohr nur als Fütterungsrohr be-
nutzten, so lange dasselbe sicli thatsächlich als solches erwies.
Ein anderer Punkt, worin namentlich die sanguineajenes Beobachtungsnestes ihr ursprüngliches
Verhalten modificirt haben, ist die Verminderung ihrer Wildheit mir gegenüber.1) Obwohl ich mit den
sanguinea dieses Nestes keine eigentliche Zähmungsversuche, wie mit mehreren Individuen der Sklavenarten
desselben angestellt hatte} so scheinen doch auch die sanguinea allmählich den Geruch meines
Fingers so weit kennen gelernt zu haben, dass sie durch denselben nicht mehr zum feindlichen Angriff
gereizt werden. Wenn ich eine der beiden Glasröhren, welche das Obernest mit dem Fütterungsrohr
oder dem Abfallneste verbinden, aus dem Dache des Obernestes herausziehe, wobei meist eine
Fliege oder ein anderes Beutethier von mir in das Obernest geworfen wird, stürzen oft einige sanguinea
sofort heraus, welche gerade als „Schildwachen“ an dem betreffenden Eingänge gesessen hatten. Halte
ich ihnen nun meinen Finger vor, so gehen sie nicht auf ihn los, um wüthend hineinzubeissen, wie
sanguinea sonst zu thun pflegt, sondern sie laufen an ihm vorüber und suchen etwas anderes, wo sie
hineinbeissen. Meist spritzen sie nicht einmal Gift aus, wenn ich sie mit einer Pincette am Beine
nehme und in das Nest zurücksetze; ihr Widerstand gegen diese Behandlung ist ein viel geringerer
als er es ursprünglich war. Die rufa und pratensis desselben Beobachtungsnestes benehmen sich derselben
Behandlung gegenüber noch jetzt gewöhnlich viel gereizter und beissen und spritzen wüthend;
in der freien Natur ist gerade das Umgekehrte der Fall; dort wehrt sich eine sanguinea mit grösserer
Heftigkeit als eine rufa oder pratensis. Die verminderte Angriffslust der sanguinea meines grossen
Beobachtungsnestes bezieht sich bloss auf ihr Benehmen mir gegenüber; sie haben im Uebrigen nichts
von ihrer Kampfeswuth durch die „Gefangenschaft“ eingebüsst; wenn ich ihnen durch jene Oeffnung
des Obernestes eine Fliege oder ein anderes Beutethier oder eine fremde Ameise hineinsetze, so wird
das Objekt sofort mit derselben Heftigkeit angegriffen wie es bei einer freilebenden, starken sa/nguinea-
Kolonie zu geschehen pflegt. Zum Vergleiche mit jenem schon sechs Jahre im Zimmer gehaltenen
Beobachtungsneste kann auch ein anderes Beobachtungsnest von F . sanguinea (aus Kolonie 86 I) dienen,
das erst in diesem Frühjahr (Ende März 1898) eingerichtet wurde. Obwohl dieses Nest viel weniger
volkreich ist als das obenerwähnte und demgemäss auch die Kampflust der Ameisen eine geringere,
so benehmen sich doch diese sanguinea, wenn ich einige aus dem Neste herauslaufen lasse, meinem
Finger gegenüber noch sehr reizbar, beissen und bespritzen denselben meist sofort, wenn ich ihnen
Die allmähliche Modificirung des Verhaltens dieser Ameisen und ihrer Sklaven gegenüber Gesichtseindrücken
wurde bereits oben (S., 34 ff.) erwähnt.
den Finger Vorhalte. Da dieses Nest erst seit einigen Wochen eingebracht wurde und zudem keinen
eigens eingerichteten Fütterungsapparat besitzt, hatten die Ameisen desselbön noch keine Gelegenheit
den Geruch meines Fingers kennen zu lernen. Ich glaube hämlich, dass das veränderte Benehmen
der smgumett des grossen, älteren Beobachtungsnestes gegenüber meinem Finger hauptsächlich dem
Umstande zuzuschreiben ist, dass ich die Nahrung, die ioh den Ameisen in den Fütterungsapparat
gab, sowie den Korkpfropfen, welcher den Glaskolben desselben. Yérschliesst,' häufig mit den Fingern
berührte, wodurch sie die feindliche Reaktion gegen den Gesuchsstoff derselben verlernten: indem die
Wahrnehmung dieses Gerüohäitoffes sich sehr häufig mit den angenehmen Erfahrungen verband die
sie im Fütterungsapparat zu machen pflegten, bildete sich eme n e u e sinnliche Association, infolge
deren-, sie ihre Ursprüngliche instinktive Handlungsweise gegen jenen Geruchsstoff modiflcirten. Diese
Form des „Lernens“ gehört offenbar in die zweite der hier aufgeführten Abtheilungen, in das Lernen
durch selbstständige sinnliche Erfahrung«. Die „Dressur« hatte nur den. A nla ss-.zu der betreffenden
Vorsteliungsverbindung/t) geboten. In ganz ähnlicher Weise scheint mir auch die Erscheinung erklärbar
zu sein , dass hohéré Raubthierei ihren Wärter am Gerüche kennen lernen und sich ihm gegenüber
ganz anders benehmen als gegen Fremdei Hier kommt allerdings noch die Gesichtswahrnehmung'zu
der Gerjchswahrnehmung als Mittel für jenes „Kennenlernen“ hinzu. Ferner darf man von Ameisen
-schwerlich erwarten, dass sie die individuellen Gerüche verschiedener Menschen scharf zu unterscheiden
lernen. Ein derartiges Vermögen liegt zfi weit .ausserhalb des Bereiches ihrer natürlichen Lebens-
verhältniCse, weil die-Geruchsstoffe, zu deren Wahrnehmung die Ameisenfühler dienen, vorwiegend anderer
Art sind als die Geruchsstoffe, die auf-das Geruchsorgan der höheren Thiere zii wirken pflegen.
Es sei-hie r noch bemerkt, dass auch die individuell erworbene Neigung der F. Sanguinea
meines grossen Beobachtungsnestes, sogar ihren normaler Weise geduldeten Gast. D im rd a drntata zu
verfolgen, ebenso wie die individuell erworbene Geschicklichkeit im Fange der D im rd a , als eine i n d
i r e k t e Wirkung der Dressur bezeichnet werden muss. Indem dieses Nest sehr häufig für Experimente
Über di|>!„internationaleh Beziehungen“ der Verschiedenen D M - B a m n benützt wurde, war
den Ameisen die Gelegenheit geboten, f f e r neue sinnliche Erfahrungen zu machen, die s ie in freier
Natur? nie gemacht haben würdegg Daher ist auch die durch jene Erfahrungen bewirkte Modificirung
ihrer: ursprünglichen instinktiven Handlungsweise eine m i t t e lb a r e Wirkung der „Dressur“. Ich hatte
diese Ameisen, allerdings ohne es zu beabsichtigen, gleichsam zur Jagd auf Dinaräa d r e s s ir t .
Es steht somit ausser Z w e ife ftä s s a u | | | die Ameisen einer Dressur durch den Menschen bis
zu einem gewissen Grade fähig sind. Die Zähmung einer- w p e n F . rufibarbis sowie die übrigen hier
erwähnten Beobachtungen bieten, einen' vollgültigen Beweis hiefür. Trotzdem ist der Grad und
namentlich der U m fa n g der Dressirbarkeit bei den Ameisen, ein viel geringerer als bei den höheren
Thieren! Die Ursachen dieser Verschiedenheit dürften hauptsächlich folgende sein.
Jede Dressur, welche der Mensch bei einem Thiere vornehmen will, muss ihren A n k n ü p fu n g s p
u n k t auf Seite des Thieres haben; denn nur dadurch, ' dass der Mensch nach seinem Plane bestimmte
sinnliche Eindrücke in regelmässiger Folge auf das. Thier wirken lässt, ist es ermöglicht, das'
Thier zu der betreffenden Handlungsweise zu dressiren. Die Anknüpfungspunkte aber, die uns für
die Dressur einer Ameise zu Gebote stehen, sind viel spärlicher und schwächer als jene, die wir für
, noohmaIs Ì)em,srkt, da» man sioh hierunter nicht „Vorstelinngsbilder“ im men s c h l i c h e n
Sinne denken darf; denn das sinnliche Sedächtniss der Ameisen ist, der Natur ihrer leitenden Sinneswahrnehmungen
entsprechend, hauptsächlich ein „Geruchsgedächtniss“. Ygl. hiezu auch 58, S. 54 ff.
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