ich in vorliegender Studie das entgegengesetzte Extrem, nämlich die mechanische Reflextheorie Bethe’s,
einer sorgfältigen Prüfung unterziehen. Ich werde die Grundlagen und die Schlussfolgerungen Bethe’s
und seine über' die Ameisen angestellten Experimente vorzugsweise berücksichtigen1). Diese Kritik
bietet jedoch bloss die nächste äussere Veranlassung zu vorliegender Arbeit. Dieselbe verfolgt den
Zweck, ein möglichst unbefangenes und kritisch zuverlässiges, zugleich aber auch ein allseitiges Bild
von den psychischen Fähigkeiten der Ameisen zu geben. Ich werde daher nicht bloss Altes wieder
in Erinnerung bringen, sondern auch aus den seit 15 Jahren über meine Beobachtungen geführten
Tagebuchnotizen vieles Neue beifügen. Von V o lls tä n d ig k e it wird auch dieses Bild allerdings noch
weit entfernt sein; dazu wäre ein Werk von ganz anderem Umfange nöthig. Allein schon für die
Beziehungen der Ameisen zu ihren Gästen, welche in das psychische Leben dieser Thiere einen vortrefflichen
Einblick gewähren, müsste ich, falls meine diesbezüglichen Beobachtungen und Versuche
sämmtlich verwerthet werden sollten, einen Band von 600—800 Seiten schreiben. Dazu hoffe ich
später einmal zu kommen, nachdem alle Vorarbeiten abgeschlossen sind. H i e r soll bloss eine zuverlässige
Orientirung über die psychischen Fähigkeiten der Ameisen geboten werden, welche mir angesichts
der obengenannten Extreme gerade jetzt sehr nützlich zu sein scheint.
Die Grundlagen der Reflextlieorie Betlie’s.
Unter „psychischen Qualitäten“ versteht Bethe nicht etwa bloss die sogenannte Intelligenz
der Thiere, d. h. das Vermögen, mittelst der Sinneserfahrung des Einzelwesens die angeborenen Instinkte
zu vervollkommnen (zu „lernen“) , s o n d e r n a u s d r ü c k l i c h a u c h j e g l i c h e S i n n e s em
p f in d u n g , S in n e sw a h r n e h m u n g , s in n l i c h e V o r s t e l l u n g , j e g l i c h e B e t h ä t i g u n g
d e s s in n l i c h e n E r k e n n t n i s s - u n d S t r e b e v e r m ö g e n s , d ie L u s t - u n d U n l u s t g e f ü h l e
und s äm m t lic h e d u r ch d i e s e l b e n a n g e r e g t e n T r i e b e und s om it a l l e s , w a s man b i s h
e r a ls I n s t in k t im e n g e r e n S in n e b e z e i c h n e t e (S. 19 u. 24). Wie er trotzdem dazu
kommt, den Ameisen alle psychischen Qualitäten abzusprechen, wird aus den Prämissen seiner B e weisführung
verständlich.
Bezüglich der Unhaltbarkeit des Panpsychismus von H a e c k e l u. A., welcher sämmtlichen
Atomen der Materie Empfindung und Strebevermögen zuschreibt, bin ich mit Herrn Bethe vollkommen
einverstanden, da eine kritische Naturphilosophie verlangt, dass man nur dort psychische Qualitäten
annehme, wo solche sich n a c h w e i s b a r ä u s s e r n . Ebenso stimme ich mit ihm in dem zweiten
Grundprinzip völlig überein, dass wir d en T h i e r e n k e in e h ö h e r e n p s y c h i s c h e n F ä h i g k e i t e n
z u s c h r e ib e n d ü r f e n , a ls z u r E r k lä r u n g d e r T h a t s a c h e n e r f o r d e r l i c h sin d . Es ist dies
derselbe Grundsatz, den Wundt3) und ich gegenüber der populären Thierpsychologie nachdrücklich
*) Die Versuche Bethe’s über die Bienen überlasse ich genaueren Kennern des Bienenlebens zur Beurtheilung.
Die logische Grundlage seiner Beweisführung, durch welche er auch bei den Bienen zur Leugnung aller psychischer
Qualitäten gelangt, ist dieselbe wie bei den Ameisen; sie lautet „nicht erlernt, also reflex.“ Indem ich diesen Satz
als einen Fehlschluss im Folgenden nachweise, wird selbstverständlich auch Bethe’s Beweisführung bezüglich der Bienen
auf ihren wahren Werth zurückgeführt.
2) Bethe meint (S. 16), Wundt messe mit einem „vielleicht zu strengen Maasse die psychischen Qualitäten
der höheren Säuger.“ Ich glaube dagegen, dass Wundt seinen psychologischen Principien auch gegenüber den höheren
Thieren sich völlig consequent bleibt, was bei Herrn Bethe nicht der Fall ist, indem er dieselben Erscheinungen bei
den Ameisen und bei den höheren Thieren mit einem ganz verschiedenen psychologischen Maassstabe misst. Hätte
er jene „volle Skepsis“, die er den Ameisen entgegenbringt, auch den Hunden und Affen entgegengebracht, so würde
er wohl nicht behauptet haben, letztere müssten „Alles erst lernen wie der Mensch, selbst das Gehen und Fressen“ (S. 69).
betont hatten, um deren willkürliche Vermenschlichung des Thierlebens zurückzuweisen. Hieran fügt
Bethe jedoch bereits einen anderen Satz, den man nicht so schlechthin unterschreiben kann; erlaufet:
n u r d o r t d ü r f e n w ir p s y c h i s c h e Q u a l i t ä t e n a n n e h m e n , wo d i e s e lb e n n a c h w e is b a r
d a z u d i e n e n , d ie H a n d lu n g sw e i s e d e s T h i e r e s zu m o d i f i c i r e n } ü b e r a l l d o r t a b e r ,
w o e in e s o l c h e M o d i f i c a t io n n ic h t n a c h w e i s b a r i s t , m ü s s e n w ir b lo s s e R e f l e x -
t h ä t i g k e i t v o r a u s s e t z e n . Prüfen wir diesen Satz etwas näher.
Unter „Modificirungsvermögen“ versteht Bethe das Vermögen, auf Grund sinnlicher Erfahrungen
neue Associationen zu bilden und zu „ le r n e n “. Es ist somit dasselbe Associationsvermögen, welches
man früher als sinnliches Gedächtniss (memoria sensitiva) bezeichnete, und welches die moderne Thierpsychologie
irrthümlich „Intelligenz der Thiere“ nannte1):. Es fragt sich nun, ob die von B. aufgestellte
logische Alternative: e n tw e d e r Modificirungsvermögen o d e r blosse Reflexthätigkeit eine
vollständige sei. Mit anderen Worten: gibt es nicht noch e in D r i t t e s , das zwischen beiden liegt?
In der That liegt zwischen dem Vermögen, zusammengestellte Sinnesvorstellungen zu bilden
und der blossen Reflexthätigkeit noch ein ungeheuer weites Gebiet in der Mitte: das ganze Gebiet
der e in f a c h e n I n s t in k t e , das Vermögen der Thiere, auf bestimmte Empfindungen und Sinnes-
.Wahrnehmungen u n m i t t e lb a r in zweckmässigerWeise zu reagiren, in Folge der Lust- oder Unlustgefühle,
welche durch die betreffenden Objekte in ihnen erregt werden. D i e s e s g a n z e G e b i e t
d e r e in f a c h e n I n s t in k t e h a t B e t h e a u s d e r P s y c h o l o g i e g e s t r i c h e n u n d fü r b lo s s e
R e f l e x t h ä t i g k e i t e r k lä r t .
Der Grund, den er für dieses völlig neue Verfahren angibt, ist nicht stichhaltig. B. meint,
o h n e ein Modificirungsvermögen, durch welches das Thier in Folge früherer Sinneswahrnehmungen
zu lernen im Stande se i, hätten die einfachen psychischen Qualitäten der Empfindung und Sinneswahrnehmung
„ k e in e n Z w e c k “. Das ist jedoch unrichtig. Die sinnliche Empfindung und Wahrnehmung
ha t.an erster Stelle den Zweck, das Thier für die a u g e n b l i c k l i c h e n B e d ü r f n i s s e
zweckmässig zu leiten, indem die sinnliche Wahrnehmung der Nahrung seinen Appetit, die sinnliche
Wahrnehmung des Feindes seine Furcht anregt, U. s. w. Dazu genügt aber die einfache sinnliche
Wahrnehmung in Verbindung mit den entsprechenden instinktiven Trieben vollständig. Das Vermögen,
für d ie Z u k u n f t E r f a h r u n g e n zu s am m e ln und in Folge der früheren Wahrnehmungen ihre
Handlungsweise zu m o d i f i c i r e n , ist selbst für die höheren Säugethiere nur ein s e c u n d ä r e s Be-
dürfniss im Vergleich zu jenem p r im ä r e n . Es ist also unhaltbar, zu behaupten, die einfachen
psychischen Qualitäten hätten „keinen Zweck“ ohne Verbindung mit einem „Modificirungsvermögen“.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich von selbst, was von der Schlussfolgerung zu halten ist,
welche in Bethe’s Schrift fortwährend wiederkehrt: „Diese oder diese Thätigkeit der Ameisen, resp.
der Bienen i s t n i c h t e r le r n t : a ls o b e r u h t s i e a u f b lo s s e r R e f l e x t h ä t i g k e i t . “ Diese
Folgerung ist ein offenbarer Fehlschluss, weil es noch ein Drittes gibt, das zwischen diesen beiden
Möglichkeiten liegt: d en e r b l i c h e n I n s t in k t mit den einfachen psychischen Qualitäten der Empfindung
und Sinn eswahrn ehmung, die noth wendig zu ihm gehören. Daher ist das ganze Verfahren,
durch welches B. den Ameisen und Bienen a lle psychischen Qualitäten abspricht, ohne jede Beweiskraft.
Da Bethe in seiner Ameisenstudie überdies auf eine frühere Arbeit verweist, in welcher er
seine neue Reflextheorie näher begründet habe, muss ich auch auf diese Begründung hier zurück1
Den eingehenden Beweis für die Irrthümlichkeit dieses Intelligenzbegriffes habe ich meiner Schrift „Instinkt
und Intelligenz im Thierreich“ (58 Kap. 2 und 3) erbracht.