
Dass die betreffenden Sinneswahrnehmungen, auf denen bei den höheren Thieren die sinnliche Erfahrung
des Individuums beruht, grossentheils durch andere, höchstens analoge Sinnesorgane vermittelt
werden als bei den Gliedertkieren, berechtigt nicht dazu, das „Lernen“ der höheren Thiere auf einen
wesentlich höheren psychischen Faktor zurückzuführen als das „Lernen“ der Ameisen. Daher dürfen
wir auch bei den höheren Thieren die durch individuelle Sinneserfahrung erworbenen Thätigkeiten so
langenichtauf e in w i r k l i c h e s D e n k v e rm ö g e n , auf eine w i r k l i c h e I n t e l l i g e n z des Thieres
beziehen, solange einfachere Faktoren zur Erklärung der Erscheinungen genügen.
Zwischen den unter 1 und 3 erwähnten Formen des Lernens gibt es selbstverständlich manche
U e b e r g ä n g e . Ein Beispiel hiefür bietet der Prozess, wie die jungen Ameisen „lernen“, auf den
Geruchsstoff jener Gefährtinnen, in deren Gesellschaft sie die ersten Tage ihres Imagolebens zubringen,
friedlich zu reagiren, selbst wenn diese einer fremden Art angehören, während sie auf den Geruchsstoff
anderer Ameisen, ja sogar auf denjenigen ihrer eigenen Schwestern, aus deren Kolonie sie
als Puppen geraubt wurden, feindlich, zu reagiren „lernen“. Es handelt sich hiebei um die nachhaltige
"Wirkung der e r s t e n sinnlichen Eindrücke, denen das Individuum in jener Phase seiner individuellen
Entwicklung ausgesetzt ist, in welcher das Unterscheidungsvermögen der Ameisen für verschiedene
Geruchsstoffe sich ausbildet und in welcher auch der Eigengeruch der betreffenden jungen
Ameise selbst einen bleibenden, individuellen Charakter erhält (Vgl. oben S. 17 u. 18). Dieser Vorgang
ist zwar minder reflektorisch als die instinktive Einübung eines Bewegungsmechanismus, aber
doch andererseits in geringerem Grade von psychischen Elementen beeinflusst, als z. B. das Kennenlernen
neuer echter Gäste durch die erwachsenen Ameisen.
3. Eine d r i t t e Form des L e r n e n s ist jene, wo die neue Handlungsweise des Individuums
nur daraus erklärlich ist, d a s s e s a u s f r ü h e r e n E r f a h r u n g e n a u f n e u e V e r h ä l t n i s s e
s e lb s t ä n d i g s c h l i e s s t . E in d e r a r t i g e s L e r n e n b i e t e t e in e n w i r k l i c h e n B e w e i s
fü r d ie I n t e l l i g e n z d e s b e t r e f f e n d e n W e s e n s ; denn hier genügen nicht mehr die durch
sinnliche Erfahrung unmittelbar gebildeten neuen Vorstellungsassociationen (die z w e i t e Form des
Lernens), sondern es kommt noch e in w e s e n t l i c h h ö h e r e s p s y c h i s c h e s E l em e n t h in z u :
Das intelligente V e r g l e i c h e n früherer Verhältnisse mit den ijeuen, und die aus diesem Vergleiche
gezogenen S c h lü s s e . Ein solches „Lernen“ ist unerklärlich o h n e d a s V e rm ö g e n e in e r w i r k l
i c h e n in t e l l i g e n t e n E in s i c h t in ^ d ie B e z i e h u n g e n z w i s c h e n U r s a c h e u n d W ir k u n g ,
zw i s c h e n M i t t e l u n d Z w e ck .. Es setzt somit bei dem Individuum, welches in dieser Weise zu
„lernen“ vermag, e in e I n t e l l i g e n z im w i r k l i c h e n u n d e i g e n t l i c h e n S in n e d e s W o r t e s
v o r a u s . Wir müssen jetzt genau zusehen, ob ein Lernen, das auf d i e s e psychischen Faktoren mit
Sicherheit hinweist, bei den Ameisen oder bei den höheren Thieren vorhanden ist. Davon wird die
Entscheidung abhängen, ob wir den Ameisen oder den höheren Thieren I n t e l l i g e n z zuschreiben
dürfen oder nicht.
Bei den Ameisen sind keine Thatsachen bekannt, welche eine derartige Erklärung fordern.
Bethe hat, wie wir oben (S. 73) gesehen, durch seinen über einer Strasse von Lasius niger angebrachten,
allmählich höher geschraubten Honigapparat die früheren Ergebnisse von Lubbock und mir
durchaus bestätigt, dass es den Ameisen unmöglich ist, in diesem Sinne durch frühere Erfahrungen
zu „lernen“. So einfach und naheliegend es auch für einen noch so beschränkten Ameisen verstand
gewesen wäre, bei der allmählich sich vergrössernden Distanz zwischen dem Honig und ihrer Strasse
den Schluss zu bilden: „um zu dem Honig zu gelangen, müssen wir etwas Erde auf häufen“ — so
wurde dieser Schluss trotzdem von den Ameisen n i c h t gemacht. Ein scheinbar für die wirkliche
Intelligenz von Formica sanguinea sprechendes Beispiel ist von mir bereits früher (59 S. 85) berichtet
und erklärt worden. Auf die Mitte der Nestoberfläche eines Nestes von F. sanguinea, das in einer
grossen Kristallisationsschale sich befand, wurde ein weites, mit Wasser gefülltes Uhrglas gesetzt, in
dessen Mitte eine kleine Insel errichtet war, auf welcher Ameisencocons sich befanden, die ich den
Ameisen aus ihrem eigenen Neste vorher genommen hatte. Die herzukommenden Ameisen streckten
ihre Fühler nach den Cocons aus und versuchten anfangs vergeblich, zu ihnen zu gelangen; sobald
sie mit den Vorderfüssen in das Wasser geriethen, kehrten sie um, wiederholten jedoch den'vergeh,
liehen Versuch immer wieder. Plötzlich begann eine sanguinea ein ganz anderes Verfahren. Sie trug
Erdklümpchen, Holzstücke, Ameisenleichen und andere feste Gegenstände herbei und warf dieselben
in das Wasser. Andere Ameisen folgten ibrem Beispiele u n d b a ld h a t t e n s i e e in e n W eg ü b e r
d a s W a s s e r h e r g e s t e l l t . Nach Verlauf einer Stunde seit Beginn meines Experimentes hatten sie
bereits sämmtliche Cocons mittelst dieser „schwimmenden Brücke“ von der Insel abgeholt. Als
Kontrollversuch hatte ich später dasselbe Uhrglas, bloss mit Wasser gefüllt, wiederum auf dieselbe
Stelle der Nestoberfläche gesetzt. Jetzt lag kein Grund für die Ameisen vor, eine „schwimmende
Brücke“ zu bauen, da es nichts abzuholen gab, und die Ameisen desshalb auch keine besonderen
Versuche machten, in das Schälchen hineinzugelangen. Sie holten sich nur zufällig nasse Füsse,
während sie das neue Objekt an den Rändern untersuchten. Diese unangenehme Erfahrung bewog
sie dazu, auch diesmal nach und nach das Wasser mit Erde und anderen festen Stoffen zu bedecken.
Ein ähnliches Verfahren befolgen sie auch sonst, wenn eindringendes Wasser oder klebrige Gegenstände
in ihrem Neste ihnen einen unangenehmen Eindruck bei Begegnung mit denselben machen.
Diese Erscheinung gehört höchstens unter die bei der zweiten Klasse des „Lernens“ erwähnten biologischen
Thatsachen und bietet desshalb keinen Beweis für eine „intelligente Absicht“ der Thiere,
weil es durch die unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen derselben befriedigend erklärlich ist.
Aus diesem Kontrollversuche hatte ich geschlossen, dass auch im ersteren Falle, wo die
Ameisen eine „schwimmende Brücke“ s c h e in b a r zu d em i n t e l l i g e n t b e a b s i c h t i g t e n Z w e c k e
gebaut hatten, um zu den Cocons zu gelangen, man eine solche intelligente Absicht ihnen n ic h t unterlegen
dürfe. Allerdings war in jenem Falle die sinnliche Aufmerksamkeit der Ameisen auf ein bestimmtes
Ziel gerichtet, welches in der Mitte des betreffenden Wasserbassins sich befand; sie strebten
unleugbar darnach, zu den Cocons zu gelängen. Aber dass sie um das Ziel dieses Strebens zu erreichen,
den in t e l l i g e n t e n S c h lu s s gezogen haben „ a ls o m ü s s e n w ir e in e B r ü c k e b a u e n ,
um d o r th in zu g e l a n g e n “ — das ist meines Erachtens durchaus unbewiesen. Desshalb dürfen
wir diese Erklärung nicht anwenden, weil eine einfachere genügt. Diese einfachere Erklärung ergibt
sich aus dom Kontrollversuche. Die Ameisen legten den W eg , welcher sie zu den Cocons führte,
desshalb trocken, weil die Feuchtigkeit, die sie an dem Beschreiten des Weges hinderte, ihnen unangenehm
war. Diese psychologische Erklärung ist völlig genügend. Daher dürfen wir selbst der
Formica sanguinea, welche mit Recht von Forel und mir als die „intelligenteste“ aller einheimischen
Ameisen bezeichnet wurde, trotzdem k e in e I n t e l l i g e n z im w ir k l i c h e n und e i g e n t l i c h e n
S in n e zuschreiben.
Diese Darlegung löst den scheinbaren Widerspruch, der sich zwischen verschiedenen Beob-
achtungsthatsachen des Ameisenlebens findet. Einerseits gibt es nicht wenige Beweise dafür, dass die
Ameisen durch sinnliche Erfahrung wirklich zu l e r n e n v e rm ö g e n ; andererseits gibt es auch wiederum
ebenso sichere Thatsachen, welche beweisen, dass die Ameisen durch sinnliche Erfahrung n i c h t zu
le r n e n v e rm ö g e n . Dieser Widerspruch kann- nur dann befriedigend gelöst werden, wenn man