W ir m ü s s e n d a h e r d ie E r s c h e in u n g , d a s s A t t id e n od e r a n d e r e p ilz z ü c h 't e n d e
A m e i s e n b e i U e b e r s c h w em m u n g e n n e b s t ih r e r B r u t a u c h S t ü c k e d e s P ilzm a t e r ia ls
m itn e hm e n , d a r a u s e r k lä r e n , d a s s d a s s e l b e , (w e il e s ih r g e w ö h n l i c h e r N a h r u n g s s
t o f f i s t ,) a u f ih r s in n l i c h e s W a h r n e h m u n g s v e rm ö g e n i n s t in k t i v e i n e n b e s o n d e r s
a n g e n e h m e n E in d r u c k m a c h t u n d d e s s h a lb d en R e t t u n g s t r i e b d e r A m e is e n a u f
s i c h le n k t . Dass in den schwimmenden Ameisenklumpen der Pilzgarten mit den Larven und der
Königin in die Mitte zu liegen kommt, ist einfach daraus begreiflich, dass immer neue Ameisen von
aussen her an diejenigen sich anklammern, welche den ersten Knäuel gebildet haben. Die Kugelgestalt
der manchmal kopfgrossen schwimmenden Ameisenklumpen beruht wohl hauptsächlich darauf,
dass die Ameisen sich möglichst enge aneinander drängen; die Rotationsbewegung des Klumpens im
Wasser muss zudem die Kugelgestalt desselben nach rein mechanischen Gesetzen herbeiführen, indem
jene Theile der Ameisenmasse, welche nach irgend einer Seite vorstehen, bald fortgerissen werden.
Ich glaube nicht, dass wir einer ¿ A m e i s e n in t e l l ig e n z “ bedürfen, um diese Vorgänge befriedigend
zu erklären.
Die Annahme eines sinnlichen Erkenntniss- und Strebevermögens der Thiere, das sich nicht
zu einer in t e l l i g e n t e n U e b e r l e g u n g zu erheben vermag, erklärt jene Thatsachen nicht bloss
e i n f a c h e r , sondern auch z u t r e f f e n d e r , während die Voraussetzung eines intelligenten Schlussvermögens
der Thiere gerade bei manchen hieher gehörigen Erscheinungen zu u n lö s b a r e n W id e r sp
r ü c h e n fü h r t .1) Die psychisch hoch begabten Formica-Arten retten, wie bereits oben erwähnt
wurde, bei Störung ihrer Kolonie auch die Larven von Atemeles und Lomechiisa, und zwar, wie-ich
durch viele Beobachtungen festgestellt habe, sogar regelmässig vor ihren eigenen Larven und Puppen.
Und doch sind jene Käferlarven d ie s c h l im m s t e n F e in d e der Ameisen, indem sie die Eier und
jungen Larven ihrer Wirthe zu Tausenden auffressen und überdies in den betreffenden Kolonien
schliesslich die Entwicklung einer krüppelhaften Arbeiterform — der sogenannten Pseudogynen veranlassen,
wodurch allmählich der Untergang jener Kolonien herbeigeführt wird. Bei Annahme einer
Thierintelligenz müssten die Ameisen einerseits ein wirkliches Verständniss dafür besitzen, dass aus
diesen Larven einst Käfer werden, deren Beleckung eine hohe Annehmlichkeit für sie bietet; andererseits
sind sie aber wieder so dumm, dass sie noch nicht bemerkt haben, die Käferlarven müssten nach
ihrer Einbettung zur Verpuppung in Ruhe gelassen und nicht aus der Erde hervorgeholt werden, wie
die einen festen Cocon spinnenden Ameisenlarven! Einerseits müssten sie ferner ein „volles Verständniss“
dafür besitzen, dass von dem Wohle ihrer eigenen Brut das Wohl und die Existenz ihrer Kolonie abhängt;
sie müssten daher jene Käferlarven als die schlimmsten Feinde ihrer Gesellschaft, als „ s ta a t s g
e f ä h r l ic h “ im schlimmsten Sinne des Wortes, erkennen und als solche mindestens „verbannen“,
wenn nicht auffressen; aber sie sind trotzdem andererseits so dumm, das^ sie seit Jahrtausenden dieser
Kuckucksbrut die aufmerksamste Pflege widmen und auf ihre Rettung noch eifriger „bedacht sind“,
als auf diejenige ihrer eigenen Larven und Puppen! — Wer über derartige Widersprüche sich im
Interesse einer „Thierintelligenz“ hinwegzusetzen vermag, thue es; ich kann es nicht. Ich wähle daher
eine andere Erklärung, welche keine Widersprüche enthält: D i e A m e is e n b e s i t z e n k e in e
I n t e l l i g e n z , s o n d e r n b lo s s e in s in n l i c h e s E r k e n n t n i s s - u n d S t r e b e v e rm ö g e n ; d a h
e r f o lg e n s ie d en s in n l i c h e n E in d r ü c k e n o h n e B e w u s s t s e i n d e s Z w e c k e s d e r
b e t r e f f e n d e n H a n d lu n g sw e i s e .
*) Vgl. hierüber 59 S. 107 ff., wo dieser Beweis auch für die Adoptionsiustinkte höherer Thiere erbracht worden ist.
Hier zeigt sich klar, wie unhaltbar der von mancher Seite erhobene Einwand ist, ein Naturforscher
könne nicht wissen, ob das Thier bei irgend einer Thätigkeit mit oder ohne Bewusstsein des
Zweckes vorgegangen sei, und er dürfe daher auf eine psychologische Analyse des Vorganges sich gar
nicht einlassen. Wenn der Naturforscher wirklich nichts w i s s e n könnte, was er nicht durch unmittelbare
Beobachtung s i e h t , so wäre jener Einwand allerdings berechtigt; aber dieses Prinzip ist völlig
falsch. Die Naturforschung ist kein blosses Thatsachenmagazin; daher kann und muss sie aus den der
Beobachtung zugänglichen Erscheinungen a u c h a u f d ie U r s a c h e n d e r s e l b e n s c h l i e s s e n , um
dadurch zur Kenntniss der letzteren zu gelangen. Wenn man dieses Verfahren auf dem Gebiete der
vergleichenden Psychologie als „nicht naturwissenschaftlich“ ablehnen wollte, würde man eine ganz
unbegreifliche Inkonsequenz begehen; denn auf anderen naturwissenschaftlichen Gebieten ist man bekanntlich
nicht so zurückhaltend : die gesammte Entwicklungstheorie sowie alle einzelnen entwicklungstheoretischen
Erklärungsversuche beruhen auf eben diesem Schlussverfahren. Wer in der vergleichenden
Psychologie auf dasselbe Verzicht leisten will, der darf es auch in der vergleichenden Morphologie,
Embryologie; u. s. w. nicht anwenden, ohne sich selber das Fundament seiner ganzen Beweisführung
zu entziehen.
Ich schliesse daher die vorliegende kritische Untersuchung über die psychischen Fähigkeiten
der Ameisen mit folgendem Satze, der im Obigen hinreichend begründet sein dürfte.
D i e A m e is e n s in d w e d e r i n t e l l i g e n t e M in ia tu rm e n s c h e n n o c h b lo s s e R e f
l e x m a s c h in e n . S ie s in d m it d em V e rm ö g e n d e r s in n l i c h e n E m p f in d u n g u n d w i l l k
ü r lic h e n B e w e g u n g a u s g e s t a t t e t e W e s e n , d e r e n s in n l i c h e T r i e b e ( I n s t in k t e )
d u r c h s in n l i c h e W a h r n e h m u n g e n u n d E m p f in d u n g s z u s t ä n d e , s o w i e zum T h e il
a u c h d u r c h d en E in f lu s s f r ü h e r g em a c h t e r E r f a h r u n g e n in m a n n i g f a l t i g e r W e i s e
m o d i f i c i r t w e r d e n k ö n n e n . Diese Auffassung des Ameisenlebens stimmt mit den biologischen
Thatsachen völlig überein und schreibt diesen Thieren weder zu viel noch zu wenig psychische Begabung
zu. Diese Auffassung hat auch den grossen Vortheil, dass sie auf die höheren Thiere ebenfalls
anwendbar ist und daher e in e e i n h e i t l i c h e T h i e r p s y c h o l o g i e bietet; man braucht dann
nicht die psychischen Lebensäusserungen der Ameisen und der höheren Thiere mit einem a priori verschiedenen
Maassstabe zu messen, eine Inkonsequenz, die wegen der thatsächlichen Aehnlichkeit jener
Erscheinungen bei den Ameisen und bei den höheren Thieren völlig unhaltbar ist.
Auf sogenannte entwicklungstheoretische Postúlate wird man sich gegenüber den obigen
Ausführungen nicht berufen können; denn es gibt für einen Naturforscher k e in e an d e r en P o s tú la t e ,
als jene, die sich aus den Thatsachen auf dem Wege einer streng logischen Schlussfolgerung ergeben.
Dass eine Entwicklung der Arten und der Instinkte innerhalb gewisser Grenzen stattgefunden habe,
halte auch ich auf Grund der Thatsachen für sehr wahrscheinlich. Aber über die Grenzen und die
Ursachen jener Entwicklung sind wir bei dem gegenwärtigen Stande der Forschung noch zu sehr im
Unsichern, als dass man auf diesem Gebiete „ P o s t ú l a t e “ aufstellen dürfte, durch die man einer
vorurtheilsfreien Erklärung der Thatsachen Zwang anthut und zugleich andere Naturforscher auf dogmatischem
Wege zwingen will, jenen voreilig aufgestellten Postulaten sich bedingungslos zu unterwerfen.
Was aus meinen thierpsychologischen Studien für oder gegen die Entwicklungstheorie folgt,
ist mir völlig einerlei. Ich betrachte weder die Bestätigung noch die Widerlegung der descendenz-
theoretischen Hypothesen als das Ziel meiner diesbezüglichen Forschungen, sondern suche, hievon unbeeinflusst,
die einfachste, natürlichste und ungezwungenste Erklärung für die betreffenden biologischen
Thatsachen zu finden. Wo die Resultate dieser Studien wirklich für die Entwicklungstheorie sprechen,
Zoologien. H e ft 26. j g