46. Myopie und Presbyopie leitet man gewöhnlich
blos von dem Grade der Convexität der brechenden
Flächen des Auges ab. Sie haben aber gewifs auch
mit einen Grund in dem gröfsern oder geringem Grade
des Vermögens, die Axen beider Augen der Entfernung
des Gegenstandes gemäfs zur vollkommenen Convergenz
zu bringen, und die Weite der Pupille derselben genau
anzupassen. Dieses Vermögen nimmt ohne Zweifel für
nahe Gegenstände mit dem Alter ab, und darin liegt
wohl die eigentliche Ursache, warum Greise mit zunehmenden
Jahren die Gegenstände immer weiter von
den Augen wegrücken müssen, um sie deutlich zu
erkennen. In der Regel wird dabei zugleich die Sehekraft
immer schwächer, so dafs das entferntere Object
sich dem Auge nicht mehr so scharf als in frühem
Zeiten das nähere darstellt. Die ursprüngliche Myopie
und Presbyopie ist aber auch nicht immer blos Folge
von der Figur der brechenden Flächen des Auges,
sondern steht ebenfalls in einem ursächlichen Verhältnifs
mit dem Bau des ganzen Auges, besonders mit der
Entfernung der Netzhaut von der hintern Fläche der
Linse und der Beweglichkeit der Iris. Weder die eine
noch die andere ist stets auf gleiche Weise modifizixt.
Es kann Fernsichtigkeit in Beziehung auf den Punct
des deutlichsten Sehens mit Kurzsichtigkeit für entferntere
Puncte verbunden seyn. Dagegen giebt es
auch Augen, für welche jener Punct sehr nahe liegt,
und die doch weit in die Ferne reichen. Diese sehen
aber darum jenen Punct nicht immer so scharf wie
manche andere Augen. Die Ursachen dieser inannich-
faltigen Abänderungen lassen sich aus unserer Theorie
leicht im Allgemeinen bestimmen, sind indefs für individuelle
Fälle oft schwer nachzuweisen*).
47 Wenn man einen kleinen Gegenstand, z. B. ein
kleines Insect, mit angestrengter Aufmerksamkeit und
unverwandtem Blick anhaltend betrachtet, so verschwindet
nach und nach aus dem Gesichtskreise alles Uebrige,
was ausserhalb der Seheaxe liegt; es bleibt blos der
Punct, worauf diese gerichtet ist, in der Empfindung
und Vorstellung, und derselbe wird immer bestimmter
wahrgenommen, bis endlich das Auge ermattet. Diese
Thatsache ist daraus erklärbar, dafs sich unter den
angegebenen Umständen die Sehekraft der ganzen Retina
in dem Punct, worin die letztere von der Seheaxe getroffen
wird, immer mehr concentrirt, und zugleich die
Weite der Pupille sich der Entfernung des, in der
Seheaxe befindlichen Puncts immer genauer anpafst.
Mit dieser einfachen Erklärung, die ich schon vor zwölf
Jahren im 6ten Bande der Biologie (S. 521) gab, will
man sich aber nicht begnügen. Man sagt: Ein Object,
das in der Seheaxe dicht neben einem andern, haarfeinen
Gegenstand, der dasselbe nicht bedecken kann,
aber in einer gröfsern oder geringem Entfernung vom
Auge als dieser angebracht ist, werde doch auch undeutlichgesehen,
wenn man den letztem scharf betrachtet,
) In den Philosophical Transactions (Vol. 3, p. 41, n. 16 derLowthorpschen
Abkürzung) ist ein Fall von einem sechszigjährigen Manne erzählt, der
weder mit blofsen Augen noch mit Brillen einen Gegenstand deutlich
sähe. Er verfertigte sich kegelförmige Röhren von verschiedener Länge
und Weite nach der verschiedenen Entfernung der Objecte und konnte
dadurch Alles sehr deutlich sehen. Ich weifs nicht, wie viel Zutrauen
diese Erzählung verdient. Ich glaube aber, dafs sie wahr seyn kann,
wenn sie es auch nicht ist.