Das Erste, wovon jede Theorie des Sehens
ausgehen mufs, ist der Begriff von deut l ichem
Sehen. Ich verstehe darunter, dem Sprachgebrauche
gemäfs, ein Sehen des Objects in so bestimmten
Umrissen, dafs es sich gleich für das, was es ist,
erkennen und von den benachbarten Gegenständen
unterscheiden läfst. Wir nennen eine Schrift deutlich,
wenn jeder Buchstabe derselben sich uns scharf be-
gränzt, daher in der ihm eigenen Form und hinreichend
entfernt von den vorhergehenden und folgenden
Buchstaben darstellt. Hierbei kann aber der
kleinste Sehewinkel, unter welchem das Object mit
scharfen Umrissen und ganz isolirt dem Auge erscheint,
immerhin sehr grofs seyn. Wer einer Schrift mit
langen, breiten und weit von einander abstehenden
Buchstaben bedarf, um mit Leichtigkeit zu lesen,
sieht, wenn er dies kann, sie doch eben so deutlich
als ein Anderer mit einem anders organisirten Auge
die Buchstaben der feinsten Schrift. Dieser hat aber
ein scharfes Gesicht, das jenem fehlt. Es giebt
verschiedene Grade der Bestimmtheit des Umrisses
der Bilder auf der Netzhaut und des deutlichen
Sehens. Der höhere Grad des letztem geht in das
schar fe Sehen über, welches auf der Kleinheit des
äussern Sehewinkels beruhet, unter welchem zwei
Puncte noch deutlich von einander zu unterscheiden
sind. Bei diesem lassen sich absolu te und relative
Schärfe unterscheiden. Die absolute äussert sich bei
verschiedenen Augen in Rücksicht auf das Minimum
des äussern Sehewinkels überhaupt; die relative in
Betreff der unveränderteu Kleinheit des Sehewinkels
bei verschiedenem Abstand der Objecte von einander
und vom Auge. Wer z. B. zwei Puncte unter einem
Winkel von 25 Secunden noch deulich von einander
unterscheidet, die den mehresten Menschen selbst in
der passendsten Entfernung und unter übrigens gleichen
Umständen schon bei einem Winkel von 3o Secunden
zu einem einzigen zusammenfliefsen, hat ein absolut
scharfes Gesicht. Ein relativ scharfes Auge besitzt
der, dem sich zwei Puncte bei unverändertem Abstande
derselben von einander und bei gleicher Beleuchtung
in der Entfernung sowohl von 6 Zoll als von 2 Fufs
unter einerlei Winkel von 3o Secunden als verschieden
darstellen.
Was ich deutliches Sehen genannt habe, wurde
auch von einem der scharfsinnigsten Schriftsteller über
das Sehen, von Ju rin * ), mit diesem Namen bezeichnet,
und auch er gab Bestimmtheit der Umrisse
als den Character desselben an; nur nahm er mit
Unrecht die Erkennbarkeit der Theile, wenn sie nicht
zu klein sind, in seine Erklärung mit auf. Die zur
Erkennung des Ganzen nothwendigen Theile müssen
sich freilich unterscheiden lassen, wenn das Sehen
deutlich seyn soll. Es kömmt aber nicht auf die
Theile und deren Gröfse im Allgemeinen an. Wird
die Individualität des Gegenstandes durch sehr kleine
Theile bestimmt, so müssen auch diese , erkennbar
seyn, um ihn deutlich zu sehen. Was ich unter
scharfem Sehen begreife, heifst bei Ju r in vollkommene
Deutlichkeit desselben. Er unterscheidet aber
*) An Essay upon distinct and indistinct Vision, p. 115, in R. Smi th s
Conipleat System of Opiicks.