wohl von W e l c h e r zuerst beschriebenen siebförraigen Knochendefekte in der Wand der Augenhöhlen
bei beiden Kassen so g u t wie niemals beobachtet worden sind, während sie bei allen
anderen Völkerschaften und oft sogar recht häufig Vorkommen.
Aber im schroffen Gegensatz zu den sonst so ähnlich gebauten Eskimos sind die nordöstlichen
Mongolen (Samojeden, Ostjaken, Buräten, Tungusen etc.) ganz ausgesprochen breitköpfig.
Ih r Längenbreitenindex b eträgt z. B. nach W e l c h e r durchschnittlich 84, der der Grönländer
aber n u r 72!
Verschiedene Forscher, besonders V i r c h o w und R a n k e , haben denn auch bereits eine
Erklärung für diesen sehr auffallenden Unterschied bei zwei im übrigen so nahe stehenden Rassen
zu geben versucht. Sie deuten an, dass man ihn vielleicht auf die durchaus verschiedene Lebensweise
zurückführen könne. Die Eskimos sind — neben den Feuer ländern und den anthropologisch
noch so ziemlich unbekannten Koreanern — wohl diejenigen Menschen, die am meisten animalische
Kost zu sich nehmen. Sie leben vorwiegend und im Winter fast ausschliesslich von gekochtem
Seehundfleisch, von Möven, Schneehühnern oder von h a rt gedörrten Fischen, die oft in ganz unglaublichen
Quantitäten vertilgt werden. Dabei waren sie bei dem wenigstens in früheren Jahren
\ orliandenen Mangel an metallischem V' erkzeug für die Zerkleinerung jener Speisen im allgemeinen
ganz auf die Schärfe ih re r Zähne und auf die Stärke ihres Kauapparates angewiesen. Auch zu
allerlei häuslichen Verrichtungen, die freilich vorwiegend den Frauen zugewiesen waren, so unter
anderem zur Zubereitung der in grösser Zahl fü r ihre Kleidung, für ihre Wohnung und für
ihre Boote erforderlichen Tierhäute, ferner um die durchnässte und gefrorene Fussbekleidung aus
Pelzen, um eingetrocknete Riemen und anderes Lederzeug wieder geschmeidig zu machen, und
dies alles lediglich durch das Kauen der resistenten Objekte, standen die Zähne in so regelmässiger
und schwerer Arbeit, wie es von einem anderen Volke wohl kaum bekannt ist. Selbst zum Ausziehen
von Nägeln und zu ähnlichen Arbeiten bedienten sich die Grönländer vielfach ihre r Zähne. Dieselben
sind denn auch auffallend k rä ftig und bei keinem der vorliegenden Schädel von Caries
ergriffen, dafür aber in ganz ungewöhnlichem Grade abgenutzt, wie aus der Betrachtung der
einzelnen Schädel sofort hervorgeht. Besonders ist dies natürlich bei den Schneide- und Eckzähnen
der Fall, die nur noch als ganz kurze und g la tt geschliffene Stümpfe aus dem Zahnfleisch
hervorgeragt haben können. Auch die oft hyperostotische Verdickung der Alveolarränder, besonders
auf der Innenseite der Kiefer, wird von V i r c h o w auf die übertriebene Inanspruchnahme
der Zähne zurückgeführt.
Dieser äusserst starken Benutzung der Zähne entsprechend sind daher auch die Kiefer
und in noch höherem Grade die Kaumuskeln der Grönländer kolossal entwickelt, so dass ih r
Gesicht in der En-Face-Ansicht durch die Vorwölbung der Wangen und Kiefergegend oft eine
bimenförmige Contur erhält, die freilich durch eine ungewöhnliche Anhäufung des Unterhautfettgewebes
noch an Deutlichkeit gewinnt. Besonders k rä ftig und breit is t der Schläfenkaumuskel.
Seine Ansatzlinien am Schädel reichen sehr weit auf die Konvexität des Schädels hinauf, sie
bleiben gelegentlich kaum 80 mm und noch weniger von einander entfernt und ziehen die Scheitelbeinhöcker
oft noch in ih r Bereich.
Bei unseren Schädeln ist dies allerdings nicht so sta rk ausgeprägt: es be trägt die geringste
Entfernung der Lineae semicirculares super, von einander 75, resp. 98, resp. 90 mm. Die P a rie ta lhöcker
scheinen dagegen auch bei den vorliegenden Schädeln innerhalb der Schläfenlinien zu
liegen. Mit Sicherheit kann Ich dies freilich nur vori einem der Schädel sagen, da bei den anderen
gerade diese P a rtie der Konvexität s tark v e rw itte rt ist. An demselben Schädel kann ich
übrigens auch die Angabe von V irc h ow bestätigen, dass nämlich die kräftige Ansatzleiste für
den Temporalmuskel erst etwa 1 cm hinter der Kranznaht energischer gegen die Mittellinie auf-
zusteigen beginnt.
Wenn man bedenkt, welchen Einfluss der Muskelzug auf die Formgestaltung der Knochen
und also auch des Schädels ausübt, so erscheint es an und für sich wohl möglich, dass die un-
gewöhnliche Schmalheit und Höhe der Grünländerschädel mit ihre r seitlichen Kompression durch
den Tonus der mächtigen Kaumuskeln im Zusammenhang steht. Auch L a n g e r und E n g e l haben
bereits früher auf eine derartige Entstehung hoher und schmaler Schädelformen hingewiesen, und
grade bei Grönländern h a t S. H a n s e n die recht verschiedene Längenentwicklung der Extremitäten
auf die individuelle-Arbeitsleistung zurückzuführen vermocht, also ebenfalls die Knoehen-
gestaltung mit der Muskelthätigkeit in inneren Zusammenhang gebracht.
Man würde sich also die Entwicklung des Grönländerschädels jener Theorie entsprechend
so vorzustellen haben, dass durch die gewissermassen athletenhafte Ausbildung des knöchernen
und besonders des muskulösen Kauapparates der ursprünglich breite Mongolenschädel in der Querrichtung
zusammengedrückt und allmählich immer schmäler und höher geworden sei, im übrigen
aber seine Kasseneigentümlichkeiten tre u bewahrt habe. R a n k e macht freilich selbst darauf
aufmerksam, dass die Bewohner der antarktischen Gebiete Amerikas, deren Lebensweise der der
Eskimos sehr ähnlich ist, trotzdem nicht dolichocephal, sondern wie die Eeuerländer mesocephal
mit einem Längenbreitenindex von 79 ') und wie die Patagonier sogar ultrabrachycephal (Längenbreitenindex
88) sind. Indessen ist, bei den letzteren wenigstens, eine künstliche Difformierung
des Schädels durch Abplattung des Hinterkopfes im Kindesalter nachgewiesen, während ih r Gesicht
und besonders die Kiefer grade wie bei den Grönländern fast kolossal gebildet erscheinen.
Immerhin dürfte die Entstehung der Dolichocephalie der Grönländer noch nicht genügend
e rk lä rt sein- Vielleicht kann eine Untersuchung von Koreanerschädeln, zu der sich nach dem
kürzlichen Kriege in Ostasien Gelegenheit geben möchte, zu einer weiteren Entscheidung führen:
die Koreaner sollen fast ebensolche Fleischesser, wie die Grönländer, sein.
Von sonstigen Kassenmerkmalen, wie sie von den Autoren an Grönländerschäddn beschrieben
worden sind, kann ich zunächst im Anschluss an die Dolichocephalie nicht bestätigen,
was V i r c h o w über die grosse Beteiligung des Hinterhauptbeins an der Längenausbildung des
Schädels angegeben hat. Bei unseren Schädeln beträgt der Occipitalbogen nur 30,2, resp. 32,2,
resp. 29,6, also im Mittel nur 30,G°/ö des ganzen Sagittalumfanges gegen 3 2 ,4 °/o bei V irch ow .
Auch die winklige Knickung, welche die Contour der Hinterhauptsschuppe im Verlauf der Linea
semicircularis superior erleiden soll, is t an unseren Schädeln nicht in die Augen fallend. Dagegen
ist bei ihnen die an Eskimos so häufig beobachtete Kielbildung auf der Höhe der Stirn und des
Scheitels deutlich zu erkennen. Auch zeigen sie in vollem Umfange die kräftige Entwicklung
des Gesichtsschädels, auf die V i r c h o w ebenfalls aufmerksam gemacht hat. Die Augenhöhlen
sind auffallend geräumig, ih r grösster Breitendurchmesser verläuft nicht in der Horizontalebene,
sondern bildet einen sehr spitzen Winkel mit derselben.2) Die Orbitalränder sind weit über-
. ') Nach R. M a rtin (Archiv f. Arthrose!., XXII, pag. 159) besitzen sie nur einen Index von 76.
E) Die Schiel- und Schlitzängigkeit der lebenden Grönländer wird übrigens (nach S. Hansen) im wesentlichen
durtdi eine ungewöhnlich starke Rettgewebesehicht in den Augenlidern bedingt.
B ib lio tlie c a zo o lo g ica . H e ft 20. j g