V II.
Drei Gr önl ä nde r s c hä de l
von
Direktor Dr. W. Sommer, Allenberg, Ostproussen.
Die in dem Folgenden genauer beschriebenen drei Schädel stammen von Asakak auf der
Nordküste der Halbinsel Nugsuak im Umanakfjord, etwa u n te r 70° 32' nördlicher Breite gelegen,
her. Sie. wurden in drei Gräbern gefunden, die mindestens 50 J ah re a lt waren. Die ehemalige
Niederlassung Asakak is t nämlich schon seit langer Zeit von den Grönländern aufgegeben worden.
Der beste Kenner Grönlands, der 1803 verstorbene Geheime E ta ts ra t K in k , erwähnt sie
in seiner ausgezeichneten Topographie vom Jah re 1854 auch nicht einmal dem Namen nach mehr.
Etwa 50 J ah re stellen daher wohl das Minimum der Zeit da r, die seit dem Tode der früheren
Träger dieser Schädel vergangen sein muss. Sie kann aber auch sehr viel länger sein.
Die Gräber selbst, wenn man diesen Namen überhaupt auf die Bestattungsweise der
nördlicheren Eskimos an wenden darf, bestanden lediglich darin, dass man die Leichen auf den
nackten Felsboden legte und dann zum Schutze vor Füchsen and Vögeln mit einem Hügel von
Steinen zu überdecken pflegte. Einen wesentlichen Schutz gegen Verwitterung konnten daher
diese Gräber nicht gerade bieten.
Die zugehörigen Skelette waren zwar noch ziemlich erhalten, doch konnten sie aus
äusseren Gründen leider nicht mitgenommen werden. Gerätschaften oder andere Beigaben, aus
denen auf das Geschlecht der dort Beigesetzten hä tte mit Bestimmtheit geschlossen werden
können, waren nicht mehr vorhanden.
Wenn daher das Geschlecht der Schädel auch nicht ganz sicher gestellt i s t B es scheinen
übrigens zwei weiblichen und einer männlichen Geschlechts zu sein — so haben dieselben tro tz dem
einen zweifellosen Wert, da sie jedenfalls einer Epoche angehören, in der die Kreuzung von
Grönländern mit Europäern noch keine erhebliche Ausdehnung erreicht hatte.
Übrigens unterscheidet sich nach den neuen Untersuchungen von S. H a n s e n die Mischlingsrasse
nur auffallend wenig von den relativ rein gebliebenen Eskimos der Ostküste, obgleich
ein allmähliges Breiter werden der Köpfe, wenn man von Norden nach Süden an der Westküste
entlang wandert, nicht zu verkennen ist. (cfr. Meddelelser om Grönland, 1893, VII., pag. 201 seq.)
Wenn jene Gräber, wie anzunehmen, spätestens aus den Jah ren 1840—50 herrühren, so
sind die früheren Träger der in ihnen beigesetzten Schädel, da einzelne Merkmale an diesen auf
ein 40—SOjähriges Lebensalter hinweisen, um das J a h r 1800 geboren. Sie können aber sehr
wohl noch aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts herstammen. Wenn man ferner bedenkt, dass
der Umanakfjord bedeutend nördlicher liegt, als diejenigen Niederlassungen, die von den damals
überhaupt nur wenig zahlreichen Europäern bewohnt zu werden pflegten, und dass gerade an
Asakak keiner der häufiger befahrenen Handelswege vorbeiführte, so dürfte die Rassenreinheit
jener Schädel als ziemlich sicher feststehend anzunehmen sein.
Ih re Beschreibung stimmt denn auch ganz befriedigend mit der Schilderung der in anderen
wissenschaftlichen Sammlungen aufbewahrten und unzweifelhaft echten Grönländerschädel
aus jener Gegend überein.
Ich lasse nunmehr die anatomische Beschreibung der drei Schädel und das Verzeichnis
der an ihnen genommenen Masse folgen. Ich bemerke nur noch, dass ich bei der Gebrechlichkeit
der Schädel von einer Aufsägung Abstand genommen habe.
Die Messungen sind nach den Vorschriften der Fran k fu rte r Verständigung über ein gemeinschaftliches
Verfahren bei craniometrischen Untersuchungen ausgeführt worden. Die Capacitäts-
bestimmung erfolgte nach der sehr exakten Methode W e l c k e r s , wie sie im Archiv für Anthropologie
1886, XVI, pag. 13 seq. veröffentlicht ist. Im übrigen wurden die Schädel mit Hilfe
des von R a n k e konstruierten Stativs in der deutschen Horizontale aufgestellt. Ebenso bei der
Messung der Profilwinkel, die gleichfalls nach der R a n k eschen Methode vorgenommen wurde.
(Vergl. über R a n k e s Stativ und sein Goniometer seine „Beiträge zur Anthropologie etc.“
Heft X, pag. 11 seq.)
Auch die Photogramme geben die Schädel in der deutschen Horizontale aufgestellt wieder.
Schädel No. i.
Verhältnismässig gut erhaltener Grabschädel von anscheinend weiblichem Geschlecht. Der
rechte Jochbogen ist an seiner Wurzel und in der Naht mit dem Wangenbein ausgebrochen. Die
Orbital platten der Oberkiefer und des Siebbeins, wie auch die Vorderwände des Oberkiefers sind
mehrfach v e rw itte rt und durchlöchert. Die Alveolarfortsätze der Oberkiefer sind anscheinend
ebenfalls durch athmosphärische Einflüsse zernagt, besonders rechts, und stellenweise abgebröckelt.
Die oberen Schneidezähne waren schon im Leben ausgefallen, der Alveolarteil der Zwischenkiefer
is t daher stark resorbiert und nur noch angedeutet.
Auf der P a rs mastoidea des rechten Schläfenbeins und auf der Aussenfläche des rechten
Oberkiefers und der rechten Unterkieferhälfte findet sich eine hellgrüne Verfärbung des Knochens.
G e s c h l e c h t s b e s t im m u n g : Die geringe Entwicklung der Glabella und der Stirnhöcker,
die dünne und scharfrandige Profilierung der oberen Orbitalränder, das steile Aufsteigen
der S tirn in der Profilansicht, die minimale Ausbildung der Eminentia occipitalis externa, der
Warzenfortsätze, sowie aller Muskelleisten, ausser der Temporalisinsertion, die relative Schmalheit
der unteren Schneidezähne und endlich die Dünnheit aller Schädelknochen sprechen fü r das
weibliche Geschlecht.
Mit Rücksicht, freilich auf den Umstand, dass bei Grönländerfrauen gerade die Schneidezähne
sta rk abgeschliifen zu sein pflegen (vergl. B e s s e l s Archiv für Anthropologie, Bd. VIII,
pag. 115), während an dem vorliegenden Schädel die Schneidezähne des Unterkiefers weniger abgenutzt
sind, als die Backzähne, könnte man denselben für männlichen Geschlechts halten. Doch
is t zu berücksichtigen, dass hier die Schneidezähne im Oberkiefer bereits in tra vitam ausgefallen
waren und dass daher in diesem F a ll auch die unteren Schneidezähne natürlich weniger als sonst
der Abnutzung unterworfen gewesen sein mögen.