Die Kenntnisse, die man zur Behandlung der Kranken nötig
h a t, werden mündlich überliefert; schriftliche Überlieferung
giebt es nicht.
Die Priester stehen in der Regel bei den Niassern in Ansehen,
andrerseits werden sie häufig gefürchtet, weil man annimmt,
dass sie allerlei geheime Künste verstehen, mit den Geistern
verkehren und au ch , wenn sie wollen, ändern Menschen
Böses zufügen können. Nicht selten verleiht der Niasser seiner
Furcht vor dem Priester Ausdruck, ungefähr mit den W o rten :
„m a igo naisi ita” d. h. er könnte uns etwas an tu n , uns
Schaden zufügen. In Kampongs von einiger Bedeutung hat man
meistens einen männlichen und einen weiblichen e re ; kleinere
Kampongs, die dicht beisammen liegen, werden häufig von
einem gemeinschaftlichen Priester bedient. Nicht selten sind die
ere Familienangehörige der Häupter; auch die Häupter selbst
oder ihre Frauen bekleiden wohl das Amt des Priesters oder
der Priesterin.
Bei der Behandlung der Kranken müssen die niassischen
Priester und die Dukun genau untersuchen, ob der Tag, den
sie ausgesucht haben, auch ein günstiger ist; wir werden später
bei der Beschreibung des Zahnfeilens, der Beschneidung und
des Ohrlöcherstechens näher darauf eingehen; die Vorschriften
sind übrigens in den verschiedenen Teilen von Nias nicht dieselben.
Die Eingeborenen glauben denn auch , dass, wenn die
eine oder andere Arbeit oder irgend eine Feierlichkeit nicht an
dem günstigen, d. h. an einem dafür glücklichen Tage vor
sich geht, dies Krankheit zur Folge haben wird. F ü r den Bau
eines Hauses z. Bsp. gelten der achtste und der zwölfte Tag
des Monats als Glückstage. An diesen Tagen sucht man den
Platz aus, auf dem man das Haus bauen will; man schlägt
die ersten Pfähle in die Erde, macht den Herd und zieht in
die neue Wohnung ein. Wählt man andere Tage, dann werden
die Bewohner andauernd mit Krankheiten gestraft.
Als günstige Tagen für Verlobungen und Hochzeiten gelten
für viele Niasser der zweite, siebente, achte und elfte Tag
des Monats. Wird die Ehe an einem dieser Tage geschlossen,
so wird das Ehepaar wenig mit Krankheiten zu tun haben
ERSTES KAPITEL. 39
und mit reichem Kindersegen belohnt werden. Noch bei einer
Anzahl anderer Gelegenheiten, z. Bsp. beim Pflanzen, beim
Aufstellen der Vorrichtung, mit der man die Vögel auf dem
Felde verscheucht, bei der Ernte, beim Handeltreiben, beim
Fällen von Bäumen, beim Goldschmieden, haben die Niasser mit
der Frage zu rechnen, ob sie den günstigen Tag gewählt haben.
Auch den Himmelserscheinungen legen die niassischen
Priester prognostische Bedeutung bei. Wir haben bereits gesehen
, dass der Regenbogen von den Niassern für eine ungünstige
Erscheinung gilt, weil sie ihn für das Netz halten, in
dem Nadaoja die Menschen für Lature fängt; deshalb wagen
die Niasser ihre Wohnungen nicht zu verlassen, wenn ein Regenbogen
sichtbar ist; Fieber und andere Krankheiten könnten die
Folge davon sein. Nach Lett beruht die Furcht vor dem
Regenbogen bei den Westniassern auf dem Glauben, dass von
dem Regenbogen Krankheitskeime ausgehen, die den Menschen
treffen können J).
Auch vor einem Kometen fürchten sich die Niasser, weil sie
ihn für einen Stern halten, an den sich ein Teufel angeklammert
hat, in der Absicht überall auf der Erde Unheil und
Krankheit auszustreuen; ein Komet ist das Vorzeichen für den
Ausbruch einer Epidemie 2).
Missionar Fehl’ 3) erzählt, dass in Sifaoroasi (Centralnias)
die Eingeborenen eines Abends erschreckt zu ihm kamen um
ihn zu fragen, was er über „die grosse Erscheinung am
Himmel, die sie gesehen h ä tte n , dächte. Eine grosse Gestalt
mit langem Bart und brennender Fackel habe sich gezeigt
und sei südwärts weiter gezogen. Sie glaubten, dass nun alle
Bewohner der Kampongs, über welche dieser Geist hingezogen
sei, sterben müssten.
Zwei Priester waren bereits gestorben und in benachbarten
1) Lett, Aug., Im Dienst des Evangeliums'auf der W. Küste von
Nias. Missionstraktat 1901.
2) Nieuwenhuisen en von Rosenberg, Verslag omtrent het eiland
Nias en deszelfs bewoners. Verh. van het Bat. Gen. Band 30,1863.
3) Fehr, A., Die neuesten Nachrichten aus Nias. Verein der
Rhein. Missions Ges. Barmen 1906.