D er Hauptgrund, warum unsere allgemeine
Pathologie so bodenlos ist, liegt also augenscheinlich
in der verkehrten Ansicht, die man gewöhnlich
von ihrer Bearbeitung hat. —
Eine andere, sehr wichtige bedingende Ursache
ist die Vernachlässigung der Physiologie, von
denen sowohl, welche die allgemeine Pathologie
lehren, als von den Lernenden. Wie in der That
diese Lehre von den Funktionen des gesunden
Körpers vernachlässigt werden, vermag nur der
einigermassen sich zu erklären, der einen Blick
auf die Entwickelung der verschiedenen Systeme
wirft. — In künstlich erdachten Nerveneinflüssen,
in unerwiesenen Zersetzungen der Flüssigkeiten,
in unbekannten Spielen sogenannter Lebenskräfte,
suchte man eine Erklärung der fernsten Ursachen
der Erscheinungen; die n a h e l i e g e n d e n insgemein
vernachlässigend. Man baute sich die Lehre
von den Krankheiten des Körpers auf ganz andere
Gesetze, als die von den gesunden Verrichtungen,
als wäre das Leben hier ein anderes; daher entstanden
z. B. Bänderreiche W^erke über Störungen
des Kreislaufs, in denen von allen andern Dingen
nur nicht davon die Rede war, wie diese Störungen
vor sich gehen. Man betrachtete die allgemeine
Pathologie als eine philosophische Betrach-
tung, und wenn es hoch kam, (in unserer Zeit
beides zugleich,) als eine Etymologie der speciel-
len Pathologie, und doch sollte die allgemeine
Pathologie in ihrer ganzen Ausdehnung Gegenstand
des Experiments und der Beobachtung sein, wie
die Physiologie, oder man sollte vielmehr diese
nur als einen Theil von dieser bétrachten ; eine
Vereinigung, die in Deutschland besonders seit
dem vorigen Jahrhunderte nicht existirt hat. Die
Pathologen wollten die allgemeinen Gesetze der
Störung des Kreislaufs z. B. durch blosse Induction
aufstellen, und die Physiologen, die zugleich die
Bewahrer der pathologischen Anatomie, gaben dem
Leichenbefunde das Material einer Lehre als diese
selbst, weil sie sich mit den kranken Phänomenen
wenig oder gar nicht beschäftigten. Denn in der
That, was nützt es zu wissen, ob die Lunge m
dieser oder jener Krankheit roth oder grau hepa-
tisirt ist, — wenn man nicht auf experimentellem
und Beobachtungs-Wege eine Darlegung des Pro-
cesses vermochte. — Daher nützen die Vorträge
über pathologische Anatomie den Physiologen wenig,
und den Aerzten erwuchs bei jeder neuen
Frage eine oft ihr Ansehen vernichtende Verlegenheit.
— Einen historischen Beweis dieser Behauptung
lieferte unter andern eine neuliche Verhandlung
der Akademie der Medicin zu Paris
über das Empyem, der der Verfasser mit Aufmerksamkeit
folgte. Diese Versammlung, die vielleicht,
wie an keinem andern Orte, so viele ausgezeichnete
Aerzte einschliesst,.denen die Erweiterung
der Wissenschaft wenigstens noch eben so
viel gilt, als die ihres Vermögens und ihrer Ehrenstellen,
und wo der wissenschaftliche Zweck
eine schöne Gleichheit unter so verschiedenartig
gestellten Menschen möglich macht, hatte die
Eröffnung der Brusthöhle im Empyem zum Gegenstand
der Discussion gewählt.
Es handelte sich zu wissen, ob bei dem Empyem
die Eröffnung beider Brusthälften möglich
ist, ohne Erstickung hervorzubringen. — Zwei
ausgezeichnete Aerzte, der eine als Anatom und
Arzt, der andere als genialer Chirurg, machten
dasselbe Experiment: sie eröffneten Hunden beide
Brusthälften; dem einen starben sie jedesmal, dem
andern blieben sje frisch und munter. Wie ging
das zu? — der eine überliess die Hunde sich
selbst, und Haut und Muskeln bildeten auf der
SteHe durch die Agitation des Hundes eine Wand
vor der Wunde; — der andere hielt die Wunde
offen. — Ich darf wohl nicht erst, bemerken, wer
mehr verstand, einen Versuch zu befragen. —
Mir scheint es aber, dass diese Frage so sehr,zu
den Elementen der Lehre über das Athmen und
über das Verhältniss der äussern Luft zu der
Ausdehnung der Lunge gehört, dass man billig
jene Frage als entschieden und allgemein verneint
hätte voraussetzen müssen! — Dies, ein Beispiel