steht und letztere am Knochen auch sichtbar zum Ausdruck kommt. Aus den leider
an Zahl immer noch sehr geringen Arbeiten, welche nach dieser Richtung hin geliefert
sind, ging sogar mit Gewißheit hervor, daß die äußere Form eines Knochens in größter
Abhängigkeit von dem inneren Bau und zwar von der funktionellen Struktur steht, wobei
von der Natur im allgemeinen an dem Prinzip festgehalten wird, daß der gesamte Aufbau
des Knochens mit möglichst geringem Material erfolgt, um die normale Funktion
zu gewährleisten.
Bisher ist die funktionelle Struktur für die Anthropologie nicht verwertet, trotzdem
diese nicht mehr eine die morphologische Form beschreibende, sondern letztere
auch erklärende Wissenschaft zu werden beginnt. Den stärksten Anstoß gab zu dieser
Umwandlung die Descendenzlehre. Nachdem man durch Auffindung menschlicher
Knochenreste aus früheren Erdperioden ein palaeontologisches Material erhielt, welches
w e s e n t l ic h a n d e r e Formen als der rezente Mensch aufwies, so wird es diesen gegenüber
eine zwingende Notwendigkeit, die funktionelle Struktur dieser Knochenreste festzustellen.
Man wird dann allmählich vermeiden lernen, e in s e i t ig e Schlüsse allein
aus der äußeren Form dieser Knochenreste zu ziehen, welche, wie es die letzten Jahrzehnte
deutlich gezeigt haben, zu schwersten Irrtümern führten. Das hat der wahren Erkenntnis
oft mehr geschadet als genützt, indem das Hervorkehren der Extreme dem Gegner,
ein willkommener Stoff zu gerechtfertigten Angriffen war. Ich erinnere da nur an zwei
Tatsachen, einmal an das Bestreben, jeden Fund möglichst als endlich gefundenes und
alles beweisendes „fehlendes Glied“ zu bezeichnen, anderseits aber alles von der heutigen
Form Abweichende als pathologisch zu erklären, womit dann ein solcher Knochenrest
als phylogenetisch nichts beweisend gestempelt wurde. Haben wir-aber nicht erst nur
wenige sichere Schritte getan auf dem langen und schwierigen Wege zur wirklichen
Erkenntnis, welcher Herkunft der Mensch ist? Ein Leugnen dieser Tatsache würde
ein ebenso großer Fehler sein, wie eine Mißachtung jener Knochenreste, weil sie aus
irgend einem Grunde nicht in unsere herrschenden Anschauungen hineinpassen, welche
wir von dem h e u t ig e n Körper des Menschen haben.
Da es dem Anthropologen voraussichtlich niemals vergönnt sein wird, andere
Organe unserer ältesten Vorfahren zum Studium ihrer funktionellen Tätigkeit zu erhalten,
so müssen wir zur Feststellung dieser um so mehr den A u sd ru ck der Funktion
beim h e u t ig e n Menschen in seinen Skelettteilen zunächst festlegen. Da ferner selbst
über die funktionelle Knochengestalt des h e u t ig e n Menschen nur verhältnismäßig
weniges Material und auch nur solches, welches die anthropologische Forschung kaum berücksichtigte,
vorliegt, so werden die einzelnen zu besprechenden Knochen in ihrer
heutigen, funktionellen Struktur jedesmal einen breiten Raum in der Darstellung einnehmen
müssen. Besonders konnte in der vorliegenden Lieferung über das Femur
nicht über die schon vorliegenden entwickelungsmechanischen Arbeiten hinweggegangen
werden, welche die Grundlage für die Erkenntnis der funktionellen Knochengestalt bilden.
Eine vergleichende Entwickelungsmechanik menschlicher Knochenformen mußte
ferner in Rücksicht auf die Descendenzlehre unbedingt darauf hinführen, auch die funktionelle
Knochenstruktur der übrigen Primaten, insbesondere der Anthropomorphen, in
den Kreis der Untersuchung bedeutend hinein zu ziehen. Denn es war durch die letzten
Untersuchungen jener prähistorischen Knochenreste eine unzweifelhafte Tatsache geworden,
daß der Mensch sich seit dem Diluvium in seiner äußeren Form stark verändert
haben muß oder gar, daß eine ganz besondere Gattung von Menschen damals
existierte. Es waren aber außerdem an jenen Funden unzweifelhaft affenähnliche Eigenschaften
nachgewiesen. Aus diesen Gründen durfte wenigstens die funktionelle Struktur
der Knochen von Anthropomorphen nicht vernachlässigt werden. Durch Frau Professor
S elenka stand mir das höchst wertvolle Material von zahlreichen Orangutans und
Gibbons zur Verfügung, so daß ich es zum Vergleich mit den wichtigsten bekannten
diluvialen Knochenresten des Menschen benutzte, welche ich unter Beihilfe der kgl. bayerischen
Akademie der Wissenschaften persönlich untersuchen konnte. Ich habe das
Resultat dieses damaligen Überblickes schon im Jahre 1902 in einer vorläufigen Mitteilung
gegeben. (Die diluvialen menschlichen Knochenreste in Belgien und Bonn in
ihrer strukturellen Anordnung und Bedeutung für die Anthropologie. München 1902
Verlag der Akademie.) Die genauere Durchführung der Untersuchungen haben im großen
und ganzen jene Grundgedanken bestätigt.
So sehr ich überzeugt bin, daß eine Anthropologie, welche auf den grundlegenden
Lehren der f u n k t io n e lle n Gestalt fußt, wie sie Roux gegeben hat, in Zukunft
ersprießliche Früchte zu tragen vermag, indem sie ein wichtiges Hilfsmittel der Forschung
bilden kann, so verhehle ich mir durchaus nicht die Schwierigkeit des hier nun betretenen
Weges. Eine Anzahl von Forschern .haben für die folgenden Lieferungen ihre Unterstützung
bereitwilligst zugesagt. Ich hoffe mit ihrer Hilfe eine Basis für weitere Untersuchungen
auf diesem Gebiete zu legen, dessen Anfänge in meinen Arbeiten über den
Unterkiefer (Selenkas Werk: Menschenaffen. Lieferung IV und VI) enthalten sind. Die
günstige Beurteilung, welche jene Arbeiten im allgemeinen seitens der Kritik erfuhren,
erbitte ich auch für das vorliegende Unternehmen.