Auch die ausgezeichnete Entwickelung des Trochanter tertius bei sämtlichen
Femora vom Neandertal- und Spymenschen spricht für meine Auffassung, daß z. B. der
Glutaeus maximus durchaus nicht so gering entwickelt war, wie man es gewöhnlich
aus der geringen Entwickelung der Linea aspera bei diesen diluvialen Knochen annimmt.
Der Trochanter tertius ist bekanntlich eine Hauptansatzstelle des Glutaeus
.maximus und von Gegenbaur als Tuberositas glutaealis direkt bezeichnet. Man vermochte
es nicht in Einklang zu bringen, daß beim Diluvialmenschen eine sehr geringe
Linea aspera, welche für eine geringe Entwickelung des Glutaeus sprechen sollte, gleichzeitig
mit einem starken Trochanter tertius vereint auftritt. Neuerdings nahm man deshalb
für solche Fälle Zuflucht zu der Fossa hypotrochanterica als eventuelle Ansatz-
steile des Glutaeus. Nachdem ich in jenen diluvialen Oberschenkelknochen ein ganz
enorm entwickeltes bogenförmiges Trajektorium nachgewiesen habe, welches nach
meiner Auffassung einer kombinierten Wirkung der Hüftmuskülatür entspricht, stehe ich
nicht an, für den diluvialen Menschen den Besitz einer starken Glutaealmuskulatur zu behaupten.
Grade aus der Gegend des Trochanter tertius entspringt jenes bogenförmige
Trajektorium und dieses entstand beim diluvialen Menschen ganz besonders in seinem
unteren Teile und seiner mächtigen Entwickelung durch die Wirkung des dort ansetzenden
Glutaeus maximus. Die Beobachtung W aldeyers, daß der Trochanter tertius bei
robusten Oberschenkeln des rezenten Menschen häufig fehlt, während er bei sehr zarten
Exemplaren auffallend stark angetroffen wird, spricht nur für meine Ansicht, daß eine
geringere Entwickelung der Knochen ein größeres Relief von Vorsprüngen und Leisten
auf ihrer Oberfläche hervortreten läßt, wenn die ursprünglich volle Form eines Organs,
welches für die Art, der das Individuum angehört, typisch ist, funktionell geringer beansprucht
wird. Es kommen in solchen reduzierten Knochen die Trajektorien und Insertionsstellen
der Muskeln eben mehr „skelettartig" zum Ausdruck. Das kann allmählich
durch Vererbung zu einer neuen, typischen Eigenschaft der Art werden. Diesen
Grundsätzen folgt auch die Häufigkeit des Vorkommens des Trochanter tertius bei den
höchst zivilisierten Völkern, während die prozentmäßige Zahl bei den meisten niedern
Völkern abnimmt. Letztere gebrauchen dann ihre unteren Extremitäten mehr, sie erhielten
die ursprüngliche Form besser als die Europäer, deren Oberschenkelknochen teilweise
reduziert wurden. Daß die Anthropomorphen den Trochanter tertius ungleich seltener
haben, liegt außer in der geringeren Ausbildung des Glutaeus maximus in der runden,
kraftstrotzenden Form des Schaftes. Nach Fick (Archiv für Anatomie und Physiologie
1895) ist übrigens dieser Muskel beim Orangutan gelegentlich so stark wie bei
mageren Menschen. Ich glaube nicht, daß, wie Dollo uijd Wiedersheim meinen, bei
den Anthropomorphen die Insertion des Glutaeus maximus an der Fascia lata bereits
viel ausgedehnter ist als beim Menschen und daß deshalb bei ihnen der Trochanter
tertius seltener auftritt. Wenigstens spricht dagegen die Angabe von F ick, daß der
Muskel des Orangutans am Trochanter major durch einen Schleimbeutel wie beim
Menschen von ihm getrennt vorbeizieht und sich mit einer spitz zulaufenden Sehne
zwischen dem obersten und zweiten Viertel des Femur ansetzt. Eine stark hervor-
tretende Ansatzstelle in Form einer größeren Leiste oder eines Vorsprungs für den
Glutaeus maximus kann bei den Affen infolge der keinesfalls hervorragenden Mächtigkeit
dieses Muskels überhaupt nicht entstehen. Anders bei Neandertalmenschen, wo der
aufrechte Gang eigentlich schon prinzipiell einen starken Glutaeus maximus erforderte.
Dieser schuf durch seine äußerst starke Funktion den Trochanter tertius selbst auf der
mehr rundlichen Oberfläche des Knochens.
Von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet fallen auch die diluvialen menschlichen
Femora unter die Roux sehen Grundgesetze der funktionellen Anpassung. Im
Laufe der weiteren p h y lo g e n e t i s c h e n Entwickelung traten für das menschliche
Femur Abänderungen seiner damaligen Form ein. Die Beschränkung in der Größe
betraf einzelne Teile der Oberschenkelknochen, deren Material durch veränderte Funktionen
teilweise überflüssig wurde. Die vollständige Streckung der unteren Extremität
verbunden mit der einseitigen Gebrauchsweise, welche sich nahezu nur auf die nun
vollständig aufrechte Haltung respektive Fortbewegung beschränkte, waren die maßgebenden
Faktoren. Durch diese erwuchs aus den für unser heutiges Auge fremden
Formen zunächst individuell, dann für das menschliche Geschlecht typisch das heutige
menschliche Femur mit n eu en Charakteren auf Grund der funktionellen Selbstgestaltung,
auf Grund der Entwickelungsmechanik der Organismen.
Es mußte in Rücksicht auf die verschiedenartigen funktionellen Strukturen beim
heutigen Menschen und Affen, aber auch in Rücksicht auf die Femora des Neandertalmenschen,
von Interesse sein, die umgekehrte Probe auf das Exempel zu machen,
nämlich einen f o s s i l e n A f f e n Oberschenkel auf seine Struktur zu untersuchen. Ein
vorzügliches Objekt bietet sich dafür im E p p e l s h e im e r F em u r , welcher sogar aus
der Tertiärzeit stammend, in seiner generellen Stellung lange nicht den richtigen Platz
erhalten hat. Ursprünglich wurde der Knochen einem zwölfjährigen Menschen zugeschrieben,
später hielt man ihn für ein, Femur vom Dryopithecus. Ich gebe in Fig. 38
ein Übersichtsbild desselben, weil bisher eine bessere Photographie nicht existiert.
Pohlig erklärte den Fund für menschenähnlicher als alle jetzt lebenden Anthropoiden.
Er schließt das hauptsächlich aus der allgemeinen schlankeren Form und aus zwei
besonders flachen Linien, welche am oberen Ende des Femurs vorhanden sein sollen.
Sie sollten hauptsächlich beweisen, daß dieser „Tertiärschimpanse“ den aufrechten Gang