deutlich ist diese letztere Knochenwucherung, die zumeist flach-dreieckig ist und in
seitlich leicht gebogene und sich verdünnende Streifen austönt, am Kiefer E sichtbar,
wo jene Endspitzen der ganz flachen Kinnplatte in jene über dem Kieferrande .verlaufende
Rinne eihbiegt. An diesem Kieler ist zwischen der zentralen Kinnschwellung
und dem Dorne eine ganz flache Einsenkung sichtbar, die uns eben die Zusammenfügung
der beiden vorderen Kieferhälften andeutet (vergleiche beistehende Textbilder).
Diese keilförmige noch leichte Einsenkung wurde offenbar durchs die Kinnknöchelchen
ausgefüllt, welche auch die weitere, zumeist dreieckige Knockenwuchei ung
an der vorderen Kieferplatte bedingte. Als eine derartige sekundäre Bildung fasse ich
auch jenen Dorn an der medianen Stelle der Kieferbasis auf: Dieser Dorn aber ändert
mit der. Vergrößerung jener basalen Spalte auch seine Gestalt, denn wir finden ihn
beim Krapina-Kiefer D bereits in Form einer scharfen 57* mm langen Querleiste und
das Kinn als einen sehr leichten, etwas größeren Wulst entwickelt.
Ich muß hier gleich bemerken, daß schon am E-Kiefer von Kra-
pina jener Dorn 3,6 mm ausgebreitet ist und somit einen Übergang
des wirklichen Domes, welchen man an den Kiefern H, I G
und F beobachtet, zur Leiste des Kiefers D bildet. Durch dieses
Verhalten des basalen Dornes wird auch die Lage der Fossae
digastricae geregelt, d. h. sie werden zueinander genähert oder
entfernt. Ähnliche Verhältnisse können auch an rezenten Kiefern
beobachtet werden.
(0) S c h . )
Fig. 32. Der D-Kiefer mit
seiner zu einer Leiste—L
— umgewandelten Dorn
der leichten Kinnschwellung
— Sch. und d = M.
digastricus.
Aus unseren bisherigen Auseinandersetzungen folgt, daß die dreieckige, mit
ihren seitlichen dünnen Ausläufern versehene Kinnplatte beim Homo primigenius zeitlebens
eine sehr dünne Knochenplatte war, derzufolge auch die Foveolae mentales nur
andeutungsweise und zwar bei Kiefern ausgewachsener Individuen vorhanden sind.
(Vergleiche die H-D-Unterkiefer.) An Kiefern junger Individuen, wie unser C-Kiefer,
ist die Kinnplatte ganz dünn und jener Dorn nur mäßig entwickelt. Doch - sieht man
trotzdem beiderseits der Symphyse sehr leichte Vertiefungen, nämlich die ersten Spuren
der Foveolae mentales. S w a s die Unterkiefer von Spy I, La Naulette und Schipka
anlangt, so gilt für dieselben das, was für die Krapina-Kiefer gesagt wurde.
Eine intensivere Kinnbildung beim Homo primigenius konnte nur nach dem
Zurückgehen der Kieferprognathie und der Reduktion der Zahnlänge und Zahngröße erfolgen.
Mit dem Zurückgehen der Prognathie wurde gleichzeitig sowohl der betreffende
Teil der Kieferplatte, als auch die Länge der vorderen Zähne verkürzt, deren Wurzel —
wie z. B. die der Canini, tief und bis nahe zur Kieferbasis herabreichen. Als Folge
dieser Reduktion trat eine Ausbiegung der vorderen Kieferbasis ein, Wodurch das Tuberc.
mentale zur Ausprägung- kommt und damit zugleich begann eine .stärkere Entwickelung
des Kinnes, kurz, es sind Verhältnisse entstanden, die seit dem oberen Diluvium jenen
des rezenten Menschen vollkommen entsprechen (Anmerkung 3).
Der Unterkiefer des altdiluvialen Menschen unterscheidet sich also in bezug auf
die Kinnbildüng nur insofern bedeutend von der beim modernen Menschen vor sich
gehenden Bildungsweise, als die Kinnbildung bei jenen eben a u f G ru n d e in e s a b w
e ic h e n d e n B a u e s d e r U n t e r k ie f e r b a s i s a ls F o lg e d e r n o ch v o rh a n d e n e n
K i e f e r p r o g n a t h i e und d e r s e h r la n g e n Z ä h n e d e r v o r d e r e n K i e f e r p l a t t e
b e ru h t . Alle diese Umstände erlaubten nur eine teilweise, andeutungsweise Kinnbildung.
Sobald jedoch die vordere Kieferbasis, infolge des Eingehens der Prognathie
nach vorn sich auszubiegen begann, kam es, wie ich dies erläutert habe, gleichzeitig
zu einem Auseinanderweichen der unteren Kieferhälften und nun kommt der von
T o l d t ausgesprochene Satz daß „das stärkere Vorwachsen der Basalteile des Kiefers und
die Ausbildung der Kinnknöchelchen ihren Einfluß auf die Form des Knochens
geltend machen“ zur Anwendung und zur Tatsache.
Es stellen demnach die altdiluvialen Unterkiefer, infolge ihrer anderen noch
teilweise primitiveren Formverhältnisse, auch eine, diesen angepaßte Kinnbildung dar,
welche aber, wie wir dies gesehen haben, schon einem kurzen Entwickelungsstadium
in der Kinnbildung des rezenten Menschen entspricht. Die Kinnbildung des rezenten
Menschen steht also im direkten Zusammenhänge mit der Umbildung des prognathen
Unterkiefers. Das Eingehen jener starken Prognathie bei gleichzeitiger Reduktion der
Länge der vorderen Zähne und das Ausbiegen der mittleren Teile der Kieferäste ver-
anlaßten eine intensivere, den heutigen Verhältnissen entsprechende Kinnbildung.
Der Unterkiefer des Menschen hat sich schon früh vom Typus des Unterkiefers
der Anthropomorphen gesondert, so zwar, daß wir am Homo primigenius nur mehr Andeutungen
an primitive Verhältnisse, wie uns z. B. die sublinguale Exkavation eine
solche darstellt, beobachten. In einem höheren Maße ist noch die Prognathie mit den
sehr langen Zähnen der vorderen Kieferplatte vorhanden die, wie gesagt, offenbar hindernd
auf die Entwickelung des Kinnes einwirkte. Die merkwürdige, dicke vordere
Kieferbasis ist, wie erwähnt, bloß ein vorübergehendes Stadium an diesem Kieferabschnitte,
nämlich,ein Übergang der anfänglich mehr eingebogenen äffischen zu jener
modern menschlichen und nach vorn ausgebogenen Basis. In diesem Übergangsstadium
erblicke ich eines der wichtigsten Momente in • der Bildung des menschlichen
Kinnes. Von da an beginnt das Einschalten der Ossicula mentalia und mit dem Eingehen
der Kiefer- und Alveolarprognathie die weitere Entwickelung des Kinnes. Bei
einer starken Kieferprognathie konnte es überhaupt aus mechanischen Gründen zu keiner