beobachtet, zu gelten. Nachdem aber beim Homo primigenius noch gewisse primitive
Merkmale durchs Leben hindurch stationär verblieben sind, welche zum großen Teil
hindernd auf die vollständige Ausbildung W s Kinnes wirkten, so mußten, eben an diesen
altdiluvialen Unterkiefern auch diesen Verhältnissen angepaßte Erscheinungen auftreten,
die zum Teil den jetzigen Verhältnissen schroff gegenüber zu stehen scheinen. In der
Tat'werden wir bald -solche Erscheinungen kennen lernen, die uns aber dazu zwingen
anzunehmen, daß der Unterkiefer des Homo primigenius einem gewissen Entwickelungsstadium
des rezenten Kiefers, wie er uns an neugeborenen Individuen bis zum zweiten
oder dritten Lebensmonate teilweise entgegentritt, entspricht. In den bedeutenden
morphologischen Differenzen und denselben angepaßten Verhältnissen liegt der scheinbar
große Unterschied im Bau des Kinnes des Homo primigenius gegenüber dem des rezenten
Menschen. Wir brauchen bloß jene eigentümlichen, primitiven Charaktere verschwinden
zu lassen, um sogleich an der vorderen Kieferplatte Zustände zu erhalten, wie man
sie eben am rezenten Menschen beobachtet. Besonders gilt dies beispielweise für den
zwischen den beiden Kieferhälften liegenden Raum, der bei einigen unserer altdiluvialen
Kiefern am vorderen unteren Kinnrand eine mehr weniger deutliche Einsenkung zeigt
(vergleiche T o l d t , 1. cit. pag. 27), welche von der aus den Kinnknöchelchen hervor-
gegangenen Knochenmasse nicht ausgeglichen wurde.
Bezüglich der altdiluvialen Unterkiefer hat sich T o l d t in seinem Vorträge gelegentlich
der gemeinsamen Versammlung der Deutschen und Wiener anthropologischen
Gesellschaft in Salzburg dahin ausgesprochen, daß in diesen alten- Kiefern „bestimmt
eine Form vorliegt, welche eine typische Zwischen- oder Übergangsstufe in der allmählichen
Ausbildung des menschlichen Unterkiefers darstellt." Weiter sagt noch T o l d t :
„von vornherein aber darf man schon die Vermutung aussprechen, daß an diesen Unterkiefern
das Wachstum des Basalteiles nach vorne im Verhältnis zu dem des Zahnfächerteiles
ein verhältnismäßig geringes gewesen se i"1).
Wir haben im Laufe der Beschreibung die einzelnen Unterkiefer aus Krapina,
insbesondere auch die Beschaffenheit der Basis und der vorderen Kieferplatte ins Auge
gefaßt. Ich will nur kurz das wichtigste in Erinnerung bringen* um dann sogleich
Vergleiche mit den Verhältnissen an rezenten Kiefern anstellen zu können.'
An unserem ganzen J-Unterkiefer ist neben seiner Prognathie auch der Verlauf
des unteren Kieferrandes von großer Wichtigkeit. Unter dem M2 und bis zum P1
zieht eine durch die Ausbiegung des unteren Randes entstandene Längsrinne. Diese
Ausbiegung ist unter dem Foramen mentale am stärksten und bildet da ein förmliches
J) „Über die Kinnknöchelehen und ihre Bedeutung für die Kinnbildung beim Menschen.“ — K orrespondenzblatt
der Deutschen anthropol. Gesellsch. Nr. 10. 1905.
Tuberc. subinentäle. Von da an biegt beiderseits dieser aufgewulstete Rand etwas'nach
aufwärts, wobei |ich jene Rinne rasch verwischt, die Kieferbasis aber zur Symphysis
gehend, sich etwas einbiegt. In diesem Verhalten der Kieferbasis, insbesondere, in dem
Einbiegen zur Symphysis, erblicke ich noch den letzten Rest jenes hier bereits im Erlöschen
begriffenen primitiven Charakters, der sich bei den Anthropomorphen in jener
so bezeichnenden sublingualen Exkavation kundgibt und von der beim Homo primigenius
nur mehr geringe Reste zurückblieben (La Naulette, Ochos). Die Einbiegung
der Kieferbasis verursachte auch jene so bezeichnende, eingeebnete Basis der altdilu-
Fig. 31. — Die untere Partie der vorderen Kieferplatte.
D. = Dorn. K. P. = Kinnplatte. Sch. = Kinnschwellung. Sfi, = Spalt zwischen den beiden basalen Kiefer-
hälften. Ä = Rinne. & - = Kieferschwellung im Bereiche der Wurzel des Kaninus.
vialen Kiefer. — Die beiden, so gegen die Symphysis eingebogenen Unterkieferäste
hinterließen am unteren Rande einen mehr weniger weiten, winkeligen Einschnitt
(Kiefer E), der uns ganz an Verhältnisse erinnert, die an Kindern in den ersten Wochen
nach der Geburt zu beobachten sind (vergleiche T o l d t pag. 669 usw. Fig. 3,4 usw.). Dieser
Einschnitt ist zwar durch die Knochenmasse ausgefüllt, doch so, daß noch jene dreieckige
Einsenkung hinterblieb, welche uns eben auf das deutlichste die Entstehungsweise derselben
zeigt. Dieser dreieckige Knochenkeil endet nach unten mit einem stumpfen
Dorn und ist noch seitlich mit einer sich verschmälernden dünnen Knochenwucherung
(Kinnplatte) im Zusammenhänge, die uns eben die erste Kinnanlage darstellt. Besonders
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