modellierte Diaphysen im Gegensatz zum rezenten Knochen besitzen. Wenn einerseits
kein Zweifel sein kann, daß die Linea aspera des heutigen Oberschenkels auf der Ausbildung
der Muskulatur beruht, so kann ich auf Grund jener bogenförmigen Struktur
nicht die gleiche Ursache für die Crista femoris, den eigentlichen Pilaster anerkennen.
Jene bogenförmigen Trajektorien erstrecken sich ziemlich hoch in das Neandertalfemur
hinein. Ich glaube deshalb Grund zu haben, wenn ich den Mangel eines Pilasters und
!die dafür- vorhandene rundliche Gestalt der hinteren Femur-Seite jener Transversalbelastung
zuschreibe, und nicht etwa, weil die diesbezüglichen Muskeln viel schwächer
ausgebildet waren. Nach Manouvrier wird der Pilaster der menschlichen Femur durch
den m. vastus intermedius und vastus internus als Widerlager für die Diaphysenkrümmung
erzeugt. Ich glaube dagegen, ohne einen geringen Einfluß der Muskeln ganz leugnen zu
wollen, daß der Pilaster hauptsächlich der Ausdruck des Verlaufs des Maximaldruckes
ist, welcher in nahezu alleiniger, durch die Funktion eng begrenzter Vertikalrichtung
in den Labien beginnt und dann im eigentlichen Pilaster verläuft. Für die Pilasterbil- '
düng ist nach dieser Anschauung maßgebend, daß beim Menschen die Schwerlinie des
G esamtkörp ers mit seiner sehr großen Last hinter die anatomische Femur-Achse fällt,
so daß der Maximaldruck .also, selbst im Gegensatz zu den kletternden Affen mit ihrer
gebogenen Kniestellung, an der Dorsalseite der Oberschenkelknochen verläuft. Zweitens
muß aber auch die einseitige engumschriebene funktionelle Beanspruchung, welche beim
heutigen zivilisierten Menschen bei der Lokomotion fast nur in der S a g i t ta le b en e erfolgt,
vorhanden sein. Diese zweite Bedingung erfüllte der Neandertalmensch keinen-
falls, deshalb entwickelte sich sein Femurschaft plump und rundlich.
Bumüller konstatierte in seiner Arbeit über das menschliche Femur, daß dasselbe
gewöhnlich eine bedeutende Zunahme des sagittalen Durchmessers im unteren
Drittel der Diaphyse und zwar an der lateralen Seite erfährt. Der Autor glaubte,
daß diese Erscheinung mit dem aufrechten Gange des Menschen im Zusammenhänge
stehe. „Beim Affen haben die Kondylen wesentlich nur als Gelenkrollen zu dienen,
beim Menschen kommt für den unteren Teil der Diaphyse ein umgestaltender Moment
hinzu nämlich ihre Funktion als Stütze oder Tragsäule“, welche Bumüller sehr richtig
hauptsächlich auf die laterale Seite legt. Der unmittelbare Beweis für diese Anschauung
ergab sich aus der im vierten Abschnitt beschriebenen Struktur des tibialen Femurendes.
Da Bumüller jedoch der Umstand unbekannt war, daß der Maximaldruck vom
äußeren tibialen Kondylus zum inneren Halsschaftwinkel verläuft, außerdem aber von
der Vorderseite wesentlich auf die Rückseite des Femurs übertragen wird, so konnte
er nicht den weiteren Schluß ziehen, daß der Pilaster der Ausdruck des im menschlichen
"Femur vorherrschenden bestimmten Maximaldruckes sei. Bumüller neigt deshalb
der Ansicht Manouvriers zu, daß der m. vastus in Folge seiner stärkeren Entwickelung
beim Menschen die Labien einander nähere, und glaubt, daß dieser Muskel
eine geringere Fläche zum Ansatz fände. Hierdurch soll dann ein größerer Druck,
welchen dieser Muskel auf den Schaft ausübt, die Pilasterleiste hervorbringen. Ich
meine, daß diese Ansicht die Muskeltätigkeit des heutigen Menschen bedeutend überschätzt,
den statischen Druck aber gar nicht berücksichtigt. Die kräftige, nahezu runde
Form und die geringe Ausbildung der Linea aspera beim Neandertalfemur hat dagegen
viele Autoren zu der Meinung geführt, daß die inserierenden Muskeln nicht besonders
kräftig ausgebildet waren. Ich kann mich dieser Meinung nicht vollständig anschließen.
Abgesehen davon, daß die Spongiosastruktur sehr kräftig ist, so wird durch die
n o rm a le Beugestellung des Kniegelenks vom Neandertalmenschen auch die s a g i t t a l e
Beanspruchung des Femurs eine größere, und dementsprechend muß auch dieser Durchmesser
vergrößert, der Schaft also bei g l e i c h z e i t i g e r Transversalbelästung mehr
rundlich gestaltet werden. Keinesfalls darf die Stärke einer Muskelrauhigkeit auf einer
beliebigen Fläche als Maßstab für die Stärke des betreffenden Muskels aufgefaßt werden.
Ich habe das schon in meiner Kieferarbeit (Selenka IV S. 226 und 227) gezeigt.
Die phylogenetische Entwickelung des menschlichen Femurs gestaltete sich meines
Erachtens folgendermaßen. Mit der verschwindenden Beugestellung des Kniegelenkes,
wurde das menschliche Femur in s a g i t t a l e r Richtung bei einer Stellung, wie sie der
spätere Mensch annahm, viel weniger auf Biegung beansprucht. Der sagittale Durchmesser
wurde dadurch ein geringerer, die Muskelinsertionen blieben jedoch bestehen und traten
unmittelbar am schwindenden Knochen in Form von Vorsprüngen und Rauhigkeiten
hervor, während ihre Fernwirkung teilweise in Form von Leisten auf der Oberfläche
des Knochens zum Ausdruck kam. Außerdem wurde die Funktion des mensch-.
liehen Femür immer einseitiger und auch die Kraftbahnen der. s t a t i s c h e n Beanspruchung
für den aufrechten Gang in seiner heutigen Vollendung mehr und mehr
begrenzt; im übrigen konnte, dadurch mit dem Baumaterial auf das äußerste gespart
werden. Die Stärke der Linea aspera, welche im Gegensatz zum Pilaster durch
reine Muskelwirkung in Form von Rauhigkeiten auf der Oberfläche des Knochens
hervorgebracht wird, ist als.© abhängig von der Grundform des Knochens an der
Insertionsstelle. Die eigentliche Linea aspera wird auf einem Femur mit Pilasterbildung,
gleiche Stärke der inserierenden Muskeln vorausgesetzt, viel leichter erzeugt als aut
einer rundlichen Fläche, wie sie besonders dem Affenfemur eigentümlich ist. Au f den
plumpen rundlichen Oberschenkelknochen des Neandertalers brauchten deshalb durchaus
nicht schwächere Muskeln zy inserieren, weil ihre Insertionsstellen in Form von Rauhigkeiten
und Leisten weniger ausgeprägt sind als beim heutigen Menschen.