Diese großes Aufsehen erregenden Mitteilungen Culmanns und Meyers sind
späterhin in alle Lehrbücher als unzweifelhaftes Faktum übergegangen und teilweise
noch weiter nach den Lehren der graphischen Statik ausgebaut. Ganz besonders hat
1. W olff zunächst in kleineren Aufsätzen, dann aber in einem großen Werke: „Das
Gesetz der Transformation der Knochen", die normale, innere Architektur der Knochen
fast ganz in Rücksicht auf die Struktur des oberen Femur-Endes hin erörtert.
Au f Grund einer ausführlichen mathematischen Berechnung jener Zug- und Drucklinien,
welche im wesentlichen durch Culmann ausgeführt wurde, stellte W olff die
Bedeutung der Bälkchen der spongiösen Region des Oberschenkels in folgenden Sätzen
fest: „Die von der Adduktorenseite ausgehenden sind D ru c k b ä lk ch en od e r D ru c k p
lä t tch en , d. i. Bälkchen, in denen die scherenden Kräfte aufgehoben sind, und welche
zugleich der D ru c kw irk u n g d e r K ö rp e r la s t au f die A d d u k to ren s e ite den e r fo
rd e r lich en W id e r s ta n d en tg e g en se tzen . Es wird ausschließlich in den Richtungen
dieser Bälkchen das obere Ende des Oberschenkels gedrückt, und wenn daher
in diesen Richtungen keine oder nicht entsprechend starke Bälkchen vorhanden wären,
so müßte der Druck zu einem Zerdrücken des Knochens' führen. Die Bälkchen der
Trochanterseite dagegen sind Z u g b ä lk c h en , in denen ebenfalls keine scherenden
Kräfte störend wirken und welche zugleich dem du rch die K ö rp e r la s t b ed in g ten ,
au f die T r o c h a n te r s e i te w irk en d en Z u g den erforderlichen Widerstand leisten
und demnach ein A u se in an d e r re iß en des Knochens zu verhindern bestimmt sind.".
Die Ausführungen W olffs waren sehr bestechend und gewichtig. Wurden sie
doch ganz besonders durch die Autorität Culmanns, des Begründers der graphischen
Statik, gestützt. Die Natur hatte nach W olff-hier „ein mathematisches Problem dadurch
gelöst, daß sie eine Bestätigung der Zug- und Drucklinien gegeben hat“. Die
wenigen Zweifler (Merkel, Virchows Archiv, Bd. 50; Hüter, Virchows Archiv, Bd. 59),-
welche vor dem Erscheinen des W olff sehen Werkes ihre Stimme gegen die Krantheorie
erhoben hatten, verstummten. Nur Korteweg, Ghillini und besonders Bähr
haben wiederholt noch nach dem Erscheinen des WoLFFSchen Werkes in der Zeitschrift
für orthopädische Chirurgie einen Vorstoß gegen die Culmann-Meyer-Wolff sehe
Krantheorie des Oberschenkels unternommen und insbesondere Bähr geriet mit W olff
in eine sehr heftige Kontroverse. Ersterer bestritt die Anordnung der Spongiosa in
Zug- und Druckkurven und berief sich auf das Zeugnis des Mathematikers Ritter.
Dieser hat in seiner graphischen Statik, übereinstimmend mit dem von Z schokke zuerst
ausgesprochenen Satze, daß im Innern des Knochens keine Zugwirkungen vorkämen,
es als das wahrscheinlichste hingestellt, daß die Spongiosa zwar aus wirklichen Spannungskurven
bestehe, welche aber ausschließlich Druckkurven seien. Ritter hat
ferner darauf aufmerksam gemacht, daß „der Oberschenkel nicht einfach durch das
Gewicht des über ihm befindlichen Körpers statisch beeinflußt wird, sondern daß sich
an ihm verschiedene Sehnen und Bänder anheften, deren Wirkung durchaus nicht zu
vernachlässigen ist, sondern vielleicht diejenige des Körpergewichtes an Stärke noch
übertrifft". Nach Bähr ist das Bein als einheitliches Ganzes aufzufassen, der Oberschenkelknochen
findet im Becken ein Widerlager und endlich ist die Anwesenheit der
zahlreichen Muskeln wichtig, welche verhindern, daß die Stützen, als welche die Oberschenkelknochen
angesehen werden müssen, nach auswärts gedrückt werden. Bei einer
solchen Anordnung sei es sehr unwahrscheinlich, daß die Belastung des Caput auf die
Diaphyse des Oberschenkelknochens unter normalen Verhältnissen einen b ie g en d en
Einfluß habe. Es wäre nach Bähr höchstens denkbar, daß eine Biegungsbeanspruchung
im Schenkelhals vorliegt, eine Möglichkeit, welche der Autor mit aller Reserve hinstellt.
Die darauf folgende heftige Antwort W olffs und die Replik Bährs ergaben durchaus
keine Klärung, noch viel weniger eine Einigung. W olff glaubte den größten Wert
auf seine klinischen und pathologisch-anatomischen Bilder, welche der Culmann sehen
Krankonstruktion zu entsprechen schienen, legen zu müssen, während Bähr von mathe-
.matischen Beweisgründen gegen die Lehre von den Zug- und Druckkurven - ausging,
ohne den ana tomisch en Nachweis irgendwie zu führen. Mit einer gewissen Scheu
gehen diese beiden Autoren um die Einwürfe und Forderungen des Gegners herum.
Im übrigen hat W olff gelegentlich, einer zusammenfassenden Arbeit (Die Lehre von
der funktionellen Knochengestalt, Virchows Archiv, Bd. 155, 1899) auch Roux in die
Diskussion gegen Bähr hineingezogen. Roux hat in einem dort veröffentlichten Briefe
sich ebenfalls gegen die BÄHRSche Ansicht ausgesprochen. Wenngleich Roux die Lehre
von den Zug- und Druckspannungen für den Oberschenkel als Kran aufrecht erhält
und Bähr „wesentliche anatomische Irrtümer“ in bezug auf die Tätigkeit der Muskulatur
nachweist, so betont Roux hier, daß er schon seit langer Zeit für die Berücksichtigung
des Einflusses der Muskeln bei ihren Spannungen und Verkürzungen auf die Knochen
eingetreten wäre. Ich werde im Laufe der Arbeit auf diese kurze aber wichtige Mitteilung
Rouxs noch näher zurückkommen. Sicher ist, daß ein an a tom is ch e r Beweis,
resp. Gegenbeweis für W olff und Bähr das A u s s c h la g g e b e n d e hätte sein müssen.
Eine mathematisch e Deduktion oder gar nur ein Vergleich bei leblosen Gegenständen
kann für die Struktur des tierischen O rg an ism u s immer nur im höchsten Falle eine
Stütze und n ic h t eine E n t s c h e id u n g sein.
Die Äußerungen Ritters und Bährs sind kaum in weitere Kreise gedrungen
und wohl hauptsächlich wegen des fehlenden anatomischen Nachweises weniger beachtet.
Ich selbst lernte die Arbeit Bährs zufällig kennen, als die vorliegende nahezu
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