h a lb der heutigen Variationsbreite allerdings an deren unterer Grenze bleiben. Zwar
gilt das wohl immer nur von e in z e ln e n Eigenschaften, welche man beim menschlichen
Femur der Renntierzeit und selbst hoch an heutigen Oberschenkelknochen findet.
Ein Femur aber, welches etwa wie der Neandertaler dem Spy in a llem gleicht, ist
meines Wissens noch nicht beschrieben.
Es ist jedenfalls im Prinzip alles Organischen, eine frühere vegetative Form
seiner Spezies unendlich viel leichter unter geeigneten Verhältnissen wieder zu erlangen,
als eine neue und schnell erworbene Form weiter zu vererben. Die Wiederaufnahme
einer früheren Funktion ist jedenfalls ein wesentlicher Faktor für das Zustandekommen
jener erstgenannten Erscheinung. Es erscheint deshalb nicht wunderbar, wenn z. B.
beim Femur der Durchmesser des Gelenkkopfes heute auch einmal die Größe des
Neandertalers erreicht. Eine besondere Gattung kann man jedoch nicht annehmen,
wenn man die Übergänge erkennen und nachweisen kann.
Die zahlreichen vom heutigen abweichenden Eigentümlichkeiten der diluvialen
Femora führen uns nun zu dem Schlüsse, daß jene Menschen ihre unteren Extremitäten
wesentlich anders gebrauchten. Zwar war, wie schon früher erwähnt, der aufrechte
Gang unzweifelhaft vorhanden und die vorderen Extremitäten wurden normaler Weise
nicht zur Locomotion des Körpers benutzt.
F raipont, der Entdecker des Spymenschen, hat auf Grund seiner Untersuchungen
über die Tibia von Spy zunächst die Vermutung ausgesprochen, daß der Mensch seit
jener Zeit allmählich eine mehr aufrechte Haltung bekommen habe. Er schloß das unter
anderem aus einer. Zusammenfügung des rechten Spyfemurs und der linken Tibia (der
linke Spyfemur fehlt). Die Stellung beider Knocheii zu einander mit aufeinander gepaßten
Gelenkflächen ergibt eine gebogene Stellung des Kniegelenks. Da sich Spy-
und Neandertalfemur gleichen, so steht nichts im Wege, durch Verwendung des linken
Neandertalbeckens samt Femur mit der linken Tibia von Spy zumal auf Grund der
vorhandenen Trajektorien ein Bild des gesamten unteren Skeletts des diluvialen Menschen
zu konstruieren, welches wenigstens die Hauptbestandteile enthält.
Darauf wird in einer späteren Lieferung eingegangen werden müssen, hier sei
nur so viel darüber bemerkt, daß die Normalstellung des diluvialen Menschen mit g e w
öh n lich gek rümmten Knieen sein m u ß te , weil das Becken nicht an sich allein schon
sehr flach war, sondern auch weniger steil zum Femur stand, als wie es beim heutigen
Menschen je der Fall ist. Ist doch selbst beim heutigen menschlichen Gange das durchgedrückte
Knie nicht immer die Normalfunktion der unteren Extremität. Schon Brücke
hat in seiner Physiologie 1875 hervorgehoben, daß jeder Mensch eine natürliche Schrittdauer
hat, welche der Länge ^seiner Beine entspricht. Wenn jemand nach dieser natürliehen
Schrittdauer geht, so geht der Gang einfach nach den Pendelgesetzen ohne
besondere Muskelanstrengung von statten, wenn er ersteren nicht beschleunigt. Doch
kann man den Gang bis zu einem gewissen Grade beschleunigen, indem man die Beine
in den Knieen krümmt und sie beim Schreiten nicht ganz streckt. Brücke sagt hierüber
wörtlich: „Dadurch wird das schwingende Pendel verkürzt und zugleich kann dabei
das schreitende Bein noch weit ausgreifen. Das ist der Gang, welcher aus Gewohnheit
bei Individuen entsteht, welche viel und rasch in den Straßen gehen müssen, bei Briefträgern,
Barbieren u. s. w.". Das hier angedeutete Prinzip des Ganges mit gebogenen
Knieen verfolgt sogar jeder unwillkürlich mehr oder weniger beim Bergsteigen. Die
kräftige äußere Entwickelung der diluvialen Femora besonders aber ihre m ä c h t ig e
Ausbildung der Spongiosa und die daraus von mir gefolgerte g ro ß e Beanspruchung
der unteren Extremitäten führte in dem gebirgigen Terrain, in welchem jene Menschen
lebten, zu einer beson deren funktionellen Gestalt. Die untere Extremität war für
den diluvialen Menschen jedenfalls eins seiner wichtigsten Organe im Kampfe ums
Dasein, aus welchem er damals bald verfolgend bald verfolgt noch nicht als unumstrittene
Sieger hervorgegangen war. Ich schließe mich für die diluvialen menschlichen
Femora der Ansicht Manouvriers an, nach welchem die Normalfunktion der unteren Extremität
mit gewöhnlich gebeugten Knieen etwa wie beim weit ausschreitenden „Botengänge“
vor sich ging. Sie schuf die beim Spymenschen sichtbare Retroversion der Tibia,
aber auch die größere Krümmung der F emora. Manouvrier hat diesen Gang bei Bauern
und Gebirgsbewohnern beobachtet, mir ist er besonders von Bauern der spanischen
Gebirgsgegenden berichtet. Auch manche Negerstämme zeigen diesen Gang, und ich
mache besonders darauf aufmerksam, daß viele Neger nicht nur nicht mit durchgedrückten
Knieen gehen, sondern selbst mit etwas gebogenen Knieen stehen. Eine permanente,
wenn auch nicht sehr große Beugestellung der unteren Extremität erscheint
deshalb für den diluvialen Menschen als sehr wahrscheinlich, zumal die Steilstellung
des Beckens noch dazu beitragen mußte.
Es schließt sich hier die Frage an, ob diese diluvialen Femora außer zum aufrechten
Gange auch zu anderen Funktionen z. B. zum Klettern herangezogen wurden.
Obgleich man sich hier vorläufig auf ein hypothetisches Gebiet begibt, zumal noch
keine diesbezüglichen Untersuchungen von Extremitäten jener Australier z. B., welche
in besonderer Art klettern, vorliegen, so spricht sowohl äußere Form wie innere
Struktur der diluvialen Femora meines Erachtens mehr dafür als dagegen. Nachdem
ich nachwies, daß schon beim aufrechten Gang der äußere Kondylus mehr beansprucht
wird, ist seine stärkere Entwickelung in sagittaler Richtung beim Menschen ziemlich
erklärlich. Noch mehr muß derselbe beim Klettern beansprucht werden und ganz be